Thema

Aufführungen und Inszenierungen

Einführung

Im folgenden Kapitel werden als Ergebnis des Digitalisierungsprojekts audiovisuelle Dokumentationen, Texte, Programmankündigungen, Fotografien und Rezensionen zu Inszenierungen versammelt, die in unterschiedlicher Weise Einblick in Anwendungsversuche und theaterpraktische Auseinandersetzungen mit der theatralen Biomechanik Meyerholds eröffnen. Dabei ist unterschieden zwischen jenen Inszenierungen, die in der Regie oder unter unmittelbarer Mitwirkung von Gennadij Bogdanow entstanden (A) und jenen, in denen Schüler von Bogdanow Regie führten (B). In einem weiteren Abschnitt (C) wird auf einige der hier verfolgten Thematik verwandte Rekonstruktionen von Werken der russischen Theateravantgarden verwiesen.


Ein kurzer historischer Rekurs

Die Rezeption der von Meyerhold selbst erarbeiteten Inszenierungen konzentriert sich bis heute vornehmlich auf die Zeit zwischen 1922 (Premiere von „Der großmütige Hahnrei“) und der Schließung seines Theaters im Jahr 1938. Der Hauptteil der heute bekannten und v. a. fotografisch dokumentierten Inszenierungen Meyerholds entstand in der Zeit zwischen 1922 und 1938 am Staatlichen Meyerhold-Theater (TIM/GosTIM). Während der Zeit seines Studio-Betriebs in St. Petersburg konzentrierte sich Meyerhold vor allem auf die Entwicklung des Trainingssystems der Biomechanik. „Der großmütige Hahnrei“ (Premiere 25.04.1922) war jene Inszenierung, mit der Meyerholds theatrale Biomechanik erstmals und sensationell der Öffentlichkeit präsentiert wurde.

Ein Großteil der Arbeiten Meyerholds sind Inszenierungen dramatischer Texte bekannter russischer Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts: Gogol, Gribojedow, Puschkin, Majakowskij, Erdman. Bemerkenswert ist, dass eine Vielzahl seiner erfolgreichen Inszenierungen Komödien waren. „Der großmütige Hahnrei“ (Crommelynck), „Der Revisor“ (Gogol), „Die Wanze“ (Majakowskij) leben insbesondere von einer komödiantischen und grotesken Spielweise, die Meyerhold in Inszenierungen mit großem Unterhaltungswert übersetzte. Interessant ist in diesem Zusammenhang seine Idee der Erprobung der Inszenierungen an einem besonderen Publikum: Im selben Haus, in dem sich Meyerholds St. Petersburger Studio auf der Borodinskaja ulitsa befand, wurden ab 1914 verwundete Soldaten untergebracht und versorgt. Meyerhold lud sie als „Testpublikum“ zu den Übungen und Proben des Studios ein und „justierte“ die Inszenierungen in Abstimmung mit diesen Publikumsreaktionen. Dabei hatte er ein besonderes Interesse daran, eine Form zu finden, dieses neue Theaterpublikum wirkungsvoll zu unterhalten. Die Soldaten waren zeitweise das einzige zugelassene Publikum, bevor das Ensemble mit „Der großmütige Hahnrei“ 1922 offiziell an die Öffentlichkeit ging.1 Im Kapitel Historisches Material findet sich eine Übersicht über die in den Beständen des ITI befindlichen Materialien aus dieser Zeit.


1Vgl. Bochow, Jörg: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin 2010. S. 45.


Warten auf Godot, Moskau 1983 (A)

Aus der Arbeit einer kleinen Gruppe von biomechanisch ausgebildeten Darstellern des Theaters der Satire ging eine Inszenierung von Becketts „Warten auf Godot“ hervor. Die Gruppe hatte sich ausgehend von der Biomechanik Meyerholds u.a. mit Texten von Federico García Lorca, Bertolt Brecht und Molière beschäftigt und mit Formen von Theater im öffentlichen Raum und mit Elementen der Commedia dell‘arte experimentiert. Die meisten von ihnen, darunter Alexej Lewinskij, Alexandr Wojewodin und Gennadij Bogdanow, waren in den 1970er Jahren bei Nikolaj Kustow in Biomechanik ausgebildet worden. Das Theater der Satire bot ihnen für ihre Arbeit einen geschützten Raum.

Die Inszenierung, in der biomechanische Bewegungsprinzipien die Grundlage des Rollenspiels bildeten, hatte 1983 ihre Premiere auf der Probebühne des Theaters der Satire, welche ca. 100 Zuschauer*innen Platz bot. Vermutlich handelte es sich um eine der ersten Inszenierungen eines Textes von Beckett in der Sowjetunion überhaupt.1

Die Inszenierung am Theater der Satire lief über drei Spielzeiten mit wöchentlichen Vorstellungen, die, wie sich die Beteiligten erinnern, zunächst vor allem Freunde und Bekannte besuchten. Da zunächst keine offizielle Werbung für die Produktion gemacht wurde, erweiterte sich der Zuschauer*innenkreis über persönliche Kontakte. Alexej Lewinskij erinnert sich, dass der daraus resultierende intime Charakter der Abende eine Atmosphäre für Diskussionen und Gespräche geschaffen habe.2

1987 wurde die Inszenierung auf die Kleine Bühne des Jermolowa-Theaters eingeladen. Die veränderten Raumbedingungen, der viel größere Zuschauersaal, der die Inszenierung mit einer veränderten Öffentlichkeit konfrontierte, stellte eine Herausforderung für die Beteiligten dar, die sich über drei Jahre hinweg vor einem ausgewählten Publikum und in intimer Atmosphäre eingespielt hatten. Die zuvor als „kämpferisch“ beschriebene Haltung der Darsteller*innen ließ sich nicht nahtlos in einen verändert disponierten politischen und gesellschaftlichen Kontext übersetzen. Die Spieler hatten sich auch auf die Raumbedingungen des Theaters der Satire eingestellt, auf eine tiefe Bühne vor einem engen Zuschauer*innensaal. Lewinskij erinnert sich auch an die deutlich veränderten Reaktionen der Zuschauer*innen, die nun entweder minutenlang applaudierten oder noch vor Ende der Vorstellung den Raum verließen.3

Die Inszenierung spielte mit komödiantischen und grotesken Elementen, was, wie Lewinskij berichtet, eine Gruppe westdeutscher Besucher*innen, die die Inszenierung in den 1980er Jahren in Moskau besuchte, irritiert hätte: „Bei uns wird Beckett so nicht gespielt. Das zentrale Thema ist die verzweifelte Einsamkeit“, so ihre Aussage.4

Aus dem persönlichen Bestand Gennadij Bogdanows konnten einige Fotografien der 1970er und 1980er Jahre digitalisiert werden, die neben „Warten auf Godot“ auch die Arbeit an der später am Theater der Satire entstandenen Inszenierung der Clowneske „Dario und Bario“ widergeben.


1 Lewinskij erinnert sich, dass „Warten auf Godot“ zuvor bereits (auszugsweise) in der Wohnung des am Moskauer Künstlertheater (MChAT) engagierten Schauspielers Jurij Wassiljew gespielt worden war, die sich zu einer inoffiziellen Spielstätte entwickelt hatte.

2  „Ожидание в золоченой клетке“, Interview mit Alexej Lewinskij. In: Журнал teatr. 19.01.2013.

http://oteatre.info/ godot_60/ [Zuletzt abgerufen am 18.12.2018].

3 Ibd.

4 Ibd.


Das Schwitzbad, New York 1993 (A)

Eine der ersten Inszenierungen, die im Zusammenhang mit der durch Gennadi Bogdanow vermittelten theatralen Biomechanik entstand, war eine Adaption von Wladimir Majakowskijs Groteske „Das Schwitzbad“. Auf dem 2. Kongress der EMF im Mai 1993 in Berlin hatte der Theaterwissenschaftler Mel Gordon einen Arbeitskontakt zwischen Bogdanow und dem in New York beheimateten „Phoenix-Theater“ hergestellt. Bereits im Herbst 1993 übernahm Bogdanow das biomechanische Training des Ensembles, aus dem dann die Inszenierung hervorging.


Der Steinerne Gast, Moskau 1996 (A)

Gennadij Bogdanow war mehrere Jahre als Dozent für die theatrale Biomechanik an der Moskauer Theaterhochschule GITIS tätig. Hier vermittelte er vor allem an inländische Studierende Grundlagen der Biomechanik; darüber hinaus interessierten sich immer wieder auch am GITIS weilende ausländische Gaststudent*innen für eine Zusammenarbeit mit Bogdanow.

Als studentisches Projekt entstand 1996 am GITIS in der Regie des norwegischen Regiestudenten Yngve Sundvor eine Adaption von Alexandr Puschkins „Der steinerne Gast“. In einer Aufzeichnung der Produktion sind hier bereits Ansätze des freien Umgangs mit der Biomechanik sowie auf der Basis der Biomechanik erlangter Virtuosität und Improvisationsfähigkeit zu erkennen.


Das Meyerhold-Projekt an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, Berlin 1995 (A)

Die am Mime Centrum Berlin kontinuierlich entwickelte Befragung der theatralen Biomechanik als Mittel und Spielweise für zeitgenössisches Theater konnte 1995 im Rahmen eines größeren Projekts intensiviert werden. Torsten Maß, bei den Berliner Festspielen mit der Vorbereitung des Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekts „Berlin-Moskau. Moskau-Berlin“ beschäftigt, initiierte eine über ein halbes Jahr andauernde intensive Zusammenarbeit der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin mit dem Mime Centrum und Gennadij Bogdanow. Mit den auf der Biomechanik basierenden Inszenierungen von Alexandr Bloks „Die Unbekannte“ von Thomas Ostermeier und Alexandr Wwedenskijs „Eine gewisse Anzahl Gespräche“ in der Regie von Christian von Treskow wurde die bis dahin realisierte Arbeit an der Biomechanik nun Teil eines größeren öffentlichen Dialogs über Grundfragen des modernen Theaters und einer zeitgemäßen Schauspielausbildung.

Beide Inszenierungen wurden vom Publikum und der Kritik großartig aufgenommen, die Faszination entzündete sich vor allem an einer so zuvor kaum gesehenen Vitalität und Präsenz schauspielerischen Agierens. Über den Erfolg hinaus aber wurde klar, dass ein wirkliches Erschließen der Möglichkeiten der Biomechanik nicht über Workshops und temporäre Arbeitsformen zu erreichen war. Die beiden Inszenierungen der „Ernst-Busch“-Hochschule machten den Zusammenhang von Ausbildungs- und Spielmethodik in der Biomechanik deutlich: den bisweilen mühsamen aber unabdingbaren Prozess vom Erlernen, Rekonstruieren der Etüden über das Inkorporieren der Prinzipien bis hin zur Erlangung der Freiheit von der Nachahmung der Form hin zur Improvisation und Virtuosität.

 Im Zusammenhang mit dem Entstehen der beiden Inszenierungen gaben die Theaterwissenschaftler Dieter Hoffmeier und Klaus Völker (zu jenem Zeitpunkt auch Rektor der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“) ein Arbeitsbuch mit dem Titel „Werkraum Meyerhold“ heraus. Neben historischen Dokumenten und Reflexionen der Trainings- und Inszenierungsarbeit finden sich hier kurze Essays der beiden damaligen Regiestudenten zu ihren Erfahrungen mit der theatralen Biomechanik, zu Stückauswahl und Probenprozess.

Im Zusammenhang mit den beiden Inszenierungen fand am 18. September 1995 im bat, der Spielstätte der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, eine mehrstündige Gesprächs- und Diskussionsveranstaltung statt. Daran nahmen neben Gennadij Bogdanow und den beiden Regisseuren Thomas Ostermeier und Christian von Treskow auch der Moskauer Theaterwissenschaftler Wadim Schtscherbakow, der Dramaturg, Theaterwissenschaftler und spätere Autor des Buches zur Biomechanik, Jörg Bochow, sowie Ralf Räuker und Thilo Wittenbecher vom Mime Centrum Berlin teil.


Mann ist Mann, Berlin 1997 (A)

Sowohl Thomas Ostermeier als auch Christian von Treskow setzten ihre Beschäftigung mit der Biomechanik nach den ersten Erfahrungen fort. Als 1997 die Erstauflage des von Jörg Bochow verfassten und vom Mime Centrum Berlin herausgegebenen Buches und Videos „Das Theater Meyerholds und die Biomechanik“ quasi als Resümee sowohl der theaterhistorischen Recherche als auch einer intensiven praktischen Arbeit im Alexander Verlag erschien, verfügte Thomas Ostermeier mit der Baracke am Deutschen Theater bereits über „sein“ Theater und hatte gerade die englische Gegenwartsdramatik für sich entdeckt. Gleichwohl beschäftigte er sich weiter mit der Biomechanik und inszenierte nun zusammen mit Gennadij Bogdanow und Jens Hillje als Dramaturg Bertolt Brechts „Mann ist Mann“ als groteskes, absurdes Spiel. Erneut bewährte sich der fast nahtlose Übergang des täglichen Trainings der Etüden in den Prozess des Erfindens von Spielvorgängen. Die Inszenierung basierte auf einer sehr akzentuierten Körpersprache, steigerte die Momente des Artistischen, Akrobatischen bis zum Zurücktreten des Textes und der Sprache, weil „mit den Körpern fast alles erzählbar wurde“, so Tilo Werner, der Darsteller des Galy Gay.1


1 Tilo Werner in einem Bericht der 3-Sat Sendung „Kulturzeit“ vom 10.06.1997 [Vgl. BM-vid-80]


Tartuffe, Perpignan 1997 (A)

Noch im gleichen Jahr (1997) nahmen Gennadij Bogdanow und Yngve Sundvor, seinerzeit Regiestudent am Moskauer GITIS, ihre Zusammenarbeit wieder auf. Angeregt von der französischen Schauspielerin Sophie Talayrach – Jahre zuvor wie Sundvor Gaststudentin am GITIS entwickelten sie im Rahmen einer freien Theaterproduktion eine Version von Molières Tartuffe. Mit Bogdanow, Sundvor und Martin Engler bündelten sich bereits gemeinsame Erfahrungen in der Praxis der theatralen Biomechanik; neu hinzu kam der belgische Schauspieler Tony De Maeyer, der in einem der Berliner Workshops des Mime Centrum Berlin bei Bogdanow 1996 derart „Feuer gefangen“ hatte, dass die Biomechanik von nun an zur Grundlage seiner schauspielerischen wie auch pädagogischen Arbeit werden sollte.


Goebbels Tisch, Braunschweig und Berlin 2000 (A)

In gewisser Weise als Kontrapunkt zur Dominanz des kraft- und atemzehrenden Moments der Artistik und Akrobatik in der „Mann ist Mann“-Inszenierung erarbeitete Bogdanow in Zusammenarbeit mit Jörg Bochow im Jahr 2000 die Uraufführung von „Goebbels Tisch“ als Umsetzung einer fast epischen Stückvorlage für einen Schauspieler. Bochow konnte den damals fast noch unbekannten russischen Autor Farid Nagim für eine Zusammenarbeit sowie die Uraufführungsrechte des Textes gewinnen; ebenso die musikalisch-kompositorische Mitarbeit von Frank-Martin Strauß (FM Einheit). Angeregt von Stefan Schmidtke, seinerzeit Kurator der Sommerakademie des Festivals „Theaterformen“, wurde das Projekt im Jahr 2000 vom Festival produziert und in Braunschweig uraufgeführt.

Tony De Maeyer, inzwischen einer der profiliertesten biomechanischen Schauspieler in der Nachfolge Bogdanows, offenbarte, welche Präzision und Vielfalt körperlichen Ausdrucks aus der Biomechanik zu beziehen ist. Zugleich rief die Inszenierung die Vermutung wach, dass die Biomechanik als Spielmethode ihre Entsprechung in besonderer Weise in der Ensemblearbeit mit ihren Möglichkeiten des Dialogs unterschiedlicher Rollenkonstellationen, in Rhythmik und Musikalität choreographischer Gruppenarbeit besitzen könnte.


Play Don Juan, Berlin 2000 (A)

Bereits ab 1998 waren am MCB erste Überlegungen zu einer experimentellen Inszenierung entstanden, in der die bislang gemachten Erfahrungen mit Meyerholds Biomechanik in einem neuen Format weiter verarbeitet werden sollten. Ausgangspunkt der Überlegungen war Meyerholds zentrale Intention, mit der Biomechanik über eine quasi „universelle“ Basis für unterschiedliche Darstellungsformen und Dramaturgien zu verfügen. Während es sich bei den vorangegangenen Anwendungsversuchen der Biomechanik im wesentlichen um relativ geschlossene Projekte mit einem vorbestimmten Regiekonzept handelte, entwickelte Jörg Bochow in Abkehr von einer monoästhetischen Dramaturgie ein Szenarium, in welchem Szenen aus vier Don-Juan-Versionen (Molière, Bertolt Brecht, Alexandr Puschkin, Shaw) kombiniert und als Grundlage des experimentellen Erprobens der Umsetzung biomechanischer Strukturen und Techniken an unterschiedlichstem Material fungieren sollte.
Für die Realisierung des Projekts hatte sich ein internationales Team aus in der Biomechanik bereits erfahrenen DarstellerInnen wie Martin Engler, Tony De Maeyer und Sophie Taleyrach zusammen gefunden. Nach der Erarbeitung einer ersten szenischen Vorlage und intensiven Vorproben musste das Projekt in Ermangelung einer öffentlichen Förderung allerdings abgebrochen werden.


Dario und Bario, Seattle 2004 (A)

Eine intensive Arbeitsbeziehung verband Gennadij Bogdanow mit den US-amerikanischen Schauspielern David Taft und George Lewis, mit denen u.a. 2004 am Freehold Theatre in Seattle die Clowneske „Dario und Bario“ entstand.


Arbeiten des Talia Theatre / Proper Job Theatre Company (A)

Die regelmäßigen internationalen Biomechanik-Workshops am MCB wurden mehrfach zur Anregung, in verschiedenen Ländern eigenständige Arbeitsstrukturen für die Auseinandersetzung mit der Biomechanik aufzubauen, so in Großbritannien, Italien und Brasilien. James Beale und Chloe Whitehead gründeten nach mehrjähriger Mitarbeit in den Workshops des MCB in Manchester das Talia Theater als freie Theatergruppe, organisierten ab 2002 regelmäßige Workshops unter Leitung von Gennadij Bogdanow und realisierten mit ihm zusammen in den Folgejahren eine Reihe von Inszenierungsprojekten.
Neben der unmittelbaren, auf der Biomechanik basierenden Theaterarbeit entdeckten Chloe Whitehead und James Beale zunehmend Möglichkeiten, mit dem Training der Biomechanik besonders Jugendliche zu erreichen und entwickelten inzwischen ein umfangreiches Anwendungsprogramm im Bereich des community theatre.


Centro Internazionale Studi di Biomeccanica Teatrale (CISBIT – Perugia) (A)

In der Folge mehrfacher Mitarbeit an den Workshops des MCB hatte der italienische Schauspieler Claudio Massimo Paternò ab 1998 am Centro Universitario Teatrale in Perugia eine Serie von Workshops unter Leitung von Gennadij Bogdanow organisiert. 2004 gründete er zusammen mit Gennadij Bogdanow unter der Schirmhaft von Fausto Malcovati und Piergiorgio Giacchè sowie mit der Unterstützung des Mime Centrum Berlin mit dem C.I.S.B.I.T eine eigenständige Arbeitsstruktur. Gennadij Bogdanow fungiert hier als pädagogischer Leiter, die künstlerische Leitung hat Claudio Massimo Paternò inne. Das Centro Internazionale Studi di Biomeccanica Teatrale in Perugia ist das einzige Theaterzentrum weltweit, das sich ausschließlich der Verbreitung, Erforschung und Entwicklung der theatralen Biomechanik Meyerholds widmet.
Das Centro betreibt seit 2004 eine ständige Lehr- und Kommunikationsarbeit und sammelt Dokumente zur Biomechanik Meyerholds. Im Centro entstand eine Reihe von Inszenierungen, die zeitgenössische Spielmöglichkeiten der Biomechanik erproben. Im Bestand des Internationalen Theaterinstituts befindet sich die Aufzeichnung der Inszenierung „George Dandin o il Marito Raggirato“ aus dem Jahr 2010.


Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige, Berlin 2006 (B)

Der Regisseur, Schauspieler und Hörspielsprecher Martin Engler hatte 1995 bereits an den Inszenierungen von Thomas Ostermeier und Christian von Treskow im Rahmen des Meyerhold-Projekts der HfS „Ernst Busch“ mitgewirkt, an Workshops von Gennadij Bogdanow teilgenommen und war an der Produktion „Tartuffe“ (Perpignan, 1997) beteiligt. Im Jahr 2006 entwickelte er zusammen mit Absolvent*innen der HfS eine Inszenierung von Wladimir Kasakows poetischen Kurzstücken aus dem Band „Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige“, wiederum in Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Tony De Maeyer.


Christian von Treskow (B)

Seit seiner Erstberührung mit der Biomechanik während seiner Zeit als Regiestudent an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ verfolgt Christian von Treskow in seiner Arbeit eine kontinuierliche theoretische und praktische Auseinandersetzung mit Meyerholds Schauspielmethode. 1998 entstand nach einer frühen Erzählung Franz Kafkas die Inszenierung „Beschreibung eines Kampfes“, die nach einer zweiten Arbeitsphase – ermöglicht durch eine Förderung des Festivals „Theâtre en Mai“ – in Dijon leicht verändert aufgeführt wurde. Von beiden Versionen befindet sich je eine Aufnahme im Internationalen Theaterinstitut.

Von Treskow inszenierte – jeweils in Zusammenarbeit mit Tony De Maeyer – am Theater Aachen Samuel Becketts „Warten auf Godot“ sowie mit Studierenden der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg Eugène Ionescos „Es ist nicht da, es ist dort“ (2017). Zwei der daran beteiligten Studierenden wurden 2018 für ihre schauspielerische Leistung mit einem Szene-Preis beim 29. Treffen deutschsprachiger Schauspielstudierender (verbunden mit dem Bundeswettbewerb zur Förderung des Schauspielnachwuchses in Graz) ausgezeichnet.

Informationen über weitere Inszenierungen sowie ein Vortrag, den Christian von Treskow im Jahr 2000 gehalten hat, finden sich auf seiner Website.


Rekonstruktionen (C)

Rekonstruktionen sind Versuche, anhand von Archivmaterial historische Aufführungen möglichst detailgenau nachzuvollziehen und (erneut) auf die Bühne zu bringen bzw. die möglichst akkurate Nachbildung bestimmter Bühnenästhetiken und Bewegungstechniken. Der Theaterwissenschaftler Mel Gordon (†2018), der sich intensiv mit dem Theater Meyerholds und der Biomechanik sowie mit Facetten russischen/sowjetischen und deutschen Theaters des frühen 20. Jahrhunderts beschäftigte, diagnostiziert für die New Yorker Kunstszene der 1970er Jahre einen regelrechten Rekonstruktionstrend insbesondere von Aufführungen der russischen Avantgarden. In einem Artikel in der Drama Review setzt er sich mit dieser Praxis auseinander und benennt, gerade auch hinsichtlich der Biomechanik, ihre spezifischen Möglichkeiten und sich daraus ergebende Problematiken.

Mel Gordons eigene Rekonstruktionsversuche reflektieren ihre Differenz zu den historischen Aufführungen, auf die sie sich beziehen – diese werden zu Material für Auseinandersetzungen mit (Theater-)Geschichte und deren Kanonisierung. Bemerkenswert sind seine Bemühungen um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit russischer Theatergeschichte und deren Vermittlung im Rahmen theaterwissenschaftlicher Ausbildung im Hinblick auf die politischen Spannungen der 1970er und 80er Jahre. Neben Meyerhold beschäftigte er sich u.a. mit dem Choreographen Nikolaj Foregger, zu dessen theoretischem und choreographischem Ansatz er in Zusammenarbeit mit Studierenden der New York University Rekonstruktionen entwarf.