Meyerholds Leben und Wirken

Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold (geboren 1874 in Pensa als Sohn einer bürgerlichen aus Deutschland eingewanderten Familie) beginnt nach einem abgebrochenen Studium der Rechtswissenschaft seine Karriere als Schauspielschüler an der Moskauer Philharmonischen Gesellschaft. Aus dieser geht 1898 das Moskauer Künstlertheater (MchAT) unter der Leitung Konstantin Sergejewitsch Stanislawskijs hervor, an dem Meyerhold nach seinem Abschluss engagiert wird.

Meyerholds Faszination für Stanislawskij einerseits und seine frühe Kritik des am MchAT perfektionierten Naturalismus und der psychologisch-realistischen Spielweise der Schauspieler*innen andererseits gehen eine für seine eigene Theaterarbeit prägende Verbindung ein. So ist Stanislawskijs Abwendung von einem deklamatorisch-statischen Theater zweifellos voraussetzungsreich für Meyerholds Theaterverständnis. Meyerholds intensive Auseinandersetzung mit Stanislawskijs „System“ tritt in seinen Bemühungen um die Bestimmung des künstlerischen Verhältnisses von Bewegung (Geste), Emotion und Wort deutlich hervor. Auch Stanislawskij bleibt nicht unberührt von der Auseinandersetzung mit seinem Kritiker – seine spätere Tendenz der Beschäftigung mit „psycho-physischen“ Phänomenen zeugt davon. Kurz vor seinem Tod formuliert Stanislawskij eine vage Zukunftsperspektive für eine Zusammenarbeit mit Meyerhold: „Ich gebe ihm das ,System‘ - und er mir die Biomechanik.“1

Zunächst kommt es nach politischen, persönlichen, künstlerischen und die Organisation des Künstlertheater betreffenden Spannungen 1902 zu einem zeitweiligen Zerwürfnis der beiden. Meyerhold geht bis 1905 als Regisseur und Theaterleiter ins ukrainische Kherson und ins georgische Tiflis. Seine ersten Regiearbeiten sind am Stil des MchAT orientiert, was von Meyerhold später reflektiert, aber nicht grundsätzlich infrage gestellt wird. Er begreift die Zeit als „ausgezeichnete praktische Ausbildung.“2

Gleichzeitig wagt Meyerhold in der „Provinz“ erste Versuche mit nicht-naturalistischen Inszenierungs- und Spielweisen, die er, inspiriert vom Symbolismus, am MchAT, an das er 1905 als Leiter des neu eingerichteten Studios zurückkehrt, am Theater der Kommissarschewskaja und am Aleksandrinskij Theater fortsetzt. Dabei verfolgt er immer stärker die Idee eines radikal anti-naturalistischen Theaters, das sowohl bühnentechnischen Eigengesetzlichkeiten unterworfen ist als auch erst im Zusammenspiel mit dem Publikum seine Wirkung entfaltet.3

Um für dieses Theater neue Spielweisen zu erproben, eröffnet Meyerhold 1913 sein erstes eigenes Studio in Sankt Petersburg, in dem seine umfangreiche pädagogische Arbeit ihren Anfang nimmt – für seine Ideen braucht es Schauspieler*innen, die diese umsetzen können. Die hier entstehenden Übungen sind teilweise in den biomechanischen Etüden wiederzufinden. Deutlich treten die Einflüsse der Commedia dell‘arte, von Balagan und japanischem Kabuki sowie von anderen Theatertraditionen in Lehrplan und Inszenierungsexperimenten hervor.

Das Interesse ist groß: Zeitweise hat das Studio mehr als 100 Studierende. Berühmte Theaterleute wie Wladimir Majakowskij, dem Meyerhold besonders verbunden ist, besuchen das Studio, und diskutieren Meyerholds Ideen für ein neues Schauspielertheater. Bereits 1913 werden diese in Meyerholds „Über das Theater“ erstmalig publiziert.

Meyerholds Begeisterung für die bolschewistische Revolution – 1920 ruft er den „Theateroktober“ aus – und die Interessen der neuen Regierung spielen zunächst gut zusammen: Er wird 1918 zum Leiter der Abteilung für Theater des NARKOMPROS (Volkskommissariat für Bildung) ernannt und inszeniert am 1. Theater der RSFS (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik). Seine 1917 in Moskau eröffneten „Kurse der Meisterschaft der Inszenierung“ sind die erste Regieschule nach der Revolution, parallel dazu wird die „Schule der Meisterschaft des Schauspielers“ gegründet. Diese Einrichtungen verfolgen weniger den experimentellen Ansatz des ersten Sankt Petersburger Studios, vielmehr soll in möglichst kurzer Zeit eine Generation von Theaterarbeiter*innen für ein neues Verständnis von Kunst und Gesellschaft produziert werden. In die Ausbildung werden immer stärker sportliche und gymnastische Elemente integriert, die Schriften Meyerholds aus dieser Zeit zeugen von seinen Bemühungen, der Ausbildung einen wissenschaftlichen Rahmen zu geben – eine Verbindung, die für die Entwicklung der Biomechanik maßgeblich ist.

Meyerholds Position ändert sich, als im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik ab 1921 die staatliche Finanzierung vieler Theater gekürzt oder vollständig gestrichen wird. Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharskij, Leiter des NARKOMPROS, der verstärkt Inszenierungen russischer Klassiker fordert, distanziert sich von Meyerholds Reformideen: Das 1. Theater der RSFS wird geschlossen, Meyerhold verliert seine führende Stellung im nachrevolutionären Theater Russlands.

Als Antwort auf diese neue Situation gründet er im selben Jahr mit Schauspieler*innen des 1. Theaters der RSFSR und Schüler*innen die „Staatlichen Höheren Theaterwerkstätten“ (GWYTM; zuvor GWYRM), deren Kurse u.a. auch Sergej Eisenstein besucht.4

In den Werkstätten wird an der Kanonisierung und der Systematisierung der bisher erprobten Übungen und theoretischen Konzeptionen gearbeitet. Meyerholds Beschäftigung mit dem Taylorismus und der Reflexologie liefern dafür entscheidende Impulse. Konstruktivistische Einflüsse werden in den Inszenierungen Meyerholds aus dieser Zeit insbesondere auch auf der Ebene des Bühnenbildes augenfällig.

Ungeachtet eines zunehmenden Misstrauens von Seiten der Regierung erfreuen sich sowohl Meyerholds Werkstätten als auch seine Inszenierungen weiterhin großer Beliebtheit. Bis Mitte der 1920er – ab 1923 an seinem „Meyerhold-Theater“ (GosTIM, bis 1926 „Meyerhold-Theater“, TIM) in Moskau – entstehen die aufsehenerregendsten und erfolgreichsten Inszenierungen. Es finden auch öffentliche Demonstrationen der Biomechanik statt. 1922 hält Meyerhold den Vortrag „Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik“ – im Titel klingt Meyerholds intensive Beschäftigung mit Wagner und dessen Idee vom Gesamtkunstwerk sowie Georg Fuchs‘ Aufsatz „ Die Schaubühne der Zukunft“ an.5

An das „Staatliche Meyerhold-Theater“ sind bis 1931 die „Staatlichen Experimentellen Werkstätten“ (GEKTEMAS) am Meyerhold-Theater angegliedert. Für die Ausbildung der Schauspieler*innen ist hier ab Ende der 20er Jahre u.a. Nikolaj Georgijewitsch Kustow zuständig, der später am Moskauer Theater der Satire Gennadij Nikolajewitsch Bogdanow trainieren wird.

Ab dem Ende der 20er Jahre gerät Meyerhold insbesondere als Folge der Proklamation des „Sozialistischen Realismus“ politisch immer stärker in Bedrängnis. Seine Theaterkonzeption steht nicht in Einklang mit den Ansprüchen des von Regierungsseite verordneten Programms: Biomechanik wird als bürgerlich und formalistisch gebrandmarkt, Meyerholds Theater 1938 nach einer Verfemungskampagne der Parteizeitung Prawda endgültig geschlossen. Kurzzeitig kann ihn Stanislawskij als Regisseur in seinem Moskauer Opernhaus anstellen, doch mit Stanislwaskijs Tod 1938 erlischt auch dessen Schutz.

Der einstige Staatskünstler Meyerhold wird im Juni 1939 in Leningrad (Sankt Petersburg) verhaftet und am 2. Februar 1940 als „Trotzkist“ und wegen Leitung einer „antisowjetischen“ Gruppe hingerichtet.


1Крыжицкий, Г. К.: Страницы из ненаписанной книги. In: Встречи с Мейерхольдом, hg. von: М. А. Валентей, П. А. Марков, Б. И. Ростоцкий, А. В. Февральский, Н. Н. Чушкин. Moskau 1967. S. 608. Zitiert nach Bochow, Jörg: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin 2010. S. 185.

2Vgl. Gladkow, Aleksandr Konstantinowitsch: Meierkhold govorit. Kaluga 1961. S. 302. zit. nach: Braun 1995. S. 18. [Übersetzung TN] An dieser Stelle findet sich eine ausführlichere Darstellung der Arbeit in Kherson und Tiflis, die oft zugunsten der nachfolgenden Aktivitäten in Moskau und Sankt Petersburg vernachlässigt wird.

3Bei Bochow findet sich eine prägnante Definition der Konzeption dieses uslowny teatr: „Wörtlich: ,bedingtes Theater‘. Theater, das den Spielcharakter und die Bedingtheit, die Konventionen des Theaters bewußt als Prinzip setzt.“ Bochow 2010. S. 202.

4Eisenstein ist ein begeisterter Schüler Meyerholds. Seine Montagetheorie und seine Lehre der Ausdrucksbewegung entsteht auch in Auseinandersetzung mit den Bewegungsgesetzen der Biomechanik. Am von ihm geleiteten Staatlichen Höheren Institut für Kinematografie wird in den 30er Jahren ein Kurs zur Biomechanik angeboten. Nach Meyerholds Hinrichtung rettet er dessen Nachlass und ist bis zu seinem eigenen Tod 1948 maßgeblich für die theoretische Fortentwicklung und Tradierung der Biomechanik verantwortlich.

5Jörg Bochow weist darauf hin, dass dieser Vortrag lange Zeit tonangebend war für eine Rezeption Meyerholds als Künstler der bolschewistischen Revolution. Dabei würde oft außer Acht gelassen, dass viele der hier benannten Aspekte der Biomechanik bereits in der vorrevolutionären Studioarbeit entstanden waren. Bochow meint, dass in „Der Schauspieler der Zukunft“ zumindest teilweise auch bestimmte „Sprachmasken“ der Zeit zum Tragen kommen. Vgl. Bochow 2010. S. 9 und 172.


Materialien zu Meyerhold

Im Folgenden sind ausgewählte Bücher und Dokumentarfilme zu Person, Leben und Wirken Meyerholds versammelt.

Die Bibliothek des Internationalen Theaterinstituts verfügt über eine Auswahl Bücher mit detaillierten Porträts Meyerholds. Auf den Informationen dieser Bücher basiert die hier veröffentlichte Biografie Meyerholds. Die Texte sind aus internationalen und teils deutlich voneinander verschiedenen Perspektiven verfasst.

In den Beständen der Mediathek für Tanz und Theater existiert eine Reihe Dokumentarfilme über W.E. Meyerhold in verschiedenen Sprachen, die vor Ort gesichtet werden können.