Meyerhold entwickelte die theatrale Biomechanik in den 10er- und 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts in der Absicht, ein grundsätzlich neues Paradigma eines Ausbildungs- und Spielsystems für Schauspieler zu schaffen. Ursprünglich in der Schule des russischen Regisseurs, Schauspielpädagogen und Dramatikers Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko ausgebildet, wurde Meyerhold zunächst zu einem begeisterten Anhänger und brillanten Schauspieler Stanislawskis.
Doch die sehr grundsätzliche Kritik Alexander Tschechows an der Spielweise des Künstlertheaters regte ihn zunehmend an, nach einem eigenen, nicht-naturalistischen Theaterkonzept zu suchen. Der dafür von Meyerhold schrittweise und experimentell entwickelte Ansatz speiste sich aus zwei Quellen: einerseits seinem langjährigen Experimentieren mit nichtnaturalistischen Darstellungsformen u.a. der Commedia dell'arte und Formen und Stilen des japanischen Theaters, andererseits aus dem starken Bedürfnis, eine Programmatik und Wirkungsstrategie zu entwickeln, die mit den Ideen des ihn umgebenden modernen Technologie-Zeitalters und den künstlerischen Strömungen der europäischen Avantgarde-Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts korrespondiert. Meyerhold entwarf die Biomechanik als System klar strukturierter Elemente und Abläufe eines vor allem auf die physischen Ausdrucksmöglichkeiten des Darstellers orientierenden Trainings.
Genau in diesem Aspekt sollte die Biomechanik quasi einen methodischen Kontrapunkt schaffen zu der auf „Einfühlung“ und „Training der Gefühle“ basierenden Methode Stanislawskis. Statt einer eher zufälligen und auf lebensechte Abbildung zielenden Körperlichkeit des naturalistischen Schauspielers sollte eine bewusst geformte, kunsthafte Plastizität, eine Bewegungspartitur und damit die Möglichkeit einer virtuosen, äußeren Technik des Schauspielers eröffnet werden. „Wir brauchen die Schaffung einer neuen, ästhetisch ausgearbeiteten Körperlichkeit des Schauspielers, eine besondere Konzentration auf die physische Komponente der Arbeit des Schauspielers, ...“, fordert Meyerhold.1
Sowohl der von Meyerhold als Bezeichnung für seinen Ansatz verwendete Begriff der „Biomechanik“ wie auch die Darstellungsform, in welcher die Biomechanik in „Der Großmütige Hahnrei" und anderen Inszenierungen der 20er Jahre erstmals in Erscheinung trat, lösten neben Überraschung auch Kontroversen und Missverständnisse aus. Manche der Missverständnisse halten bis zu heutigen Rekonstruktionsversuchen und auf der Biomechanik basierenden Inszenierungen an und kommen zumeist aus der Annahme, dass es sich bei Meyerholds Biomechanik um einen bestimmten, nahezu kanonisierten Stil, einen zumal historischen Inszenierungsstil handele. Dass gerade die theatrale Biomechanik eine Vielfalt an Stilen und Inszenierungspraxen unterstützen oder gar begründen kann und damit zu einer Diversität von Theatersprachen beiträgt, ist in jüngerer Zeit an Inszenierungen von Thomas Ostermeier, Claudia Bauer, Hasko Weber, Christian von Treskow, Martin Engler u.a. diskutierbar geworden.
Bevor im Weiteren die Elemente, Prinzipien und Trainingsformate (Etüden) der Biomechanik verdeutlich werden, seien hier zunächst verschiedene Perspektiven skizziert, aus denen sich die theatrale Biomechanik heute erschließen lässt.
1 Бачелис, Татьяна Израилевна: Станиславский и Мейерхольд, zitiert in: Рудницкий, Константин Лазаревич: Режиссер Мейерхольд, Moskau, 1969, S. 66.