Einführung

Das Projekt zur Digitalisierung von Videobeständen der Tanzfabrik ist getragen vom Interesse, diesen so aktuellen Teil Berliner Tanzgeschichte als „lebendig Geschichte im Hinblick auf Fragen von Historiographie und Historizität für Tänzer*innen, Choreograph*innen, Tanzwissenschaftler*innen, Studierende u.a. zugänglich zu machen. Zudem trägt es bei zu einer aktuellen Debatte um die Aufgaben und Zukunft der Theater-/Tanz-Archive und die Praktiken der Archivierung.

Choreographie existiert in Aufzeichnungen und Programmen, Tanz wird jedoch zumeist in Praktiken weitergegeben, die bislang kaum Gegenstand von Aufzeichnungen waren; hin und wieder gibt es einzelne Ausschnitte von Probenprozessen (wie z.B. bei Pina Bausch), zu Workshops, zu Diskussionen, zur Praxis der einzelnen Tänzer*innen, doch zumeist bestimmt sich der Kanon anhand der einzelnen Werke, über die in Kritiken oder in der Tanzwissenschaft geschrieben wird. Gerade am Beispiel der Tanzfabrik als einem Ort, der Ausbildung, Produktion und Präsentation stets in enger Verflochtenheit  verbindet, lässt sich ein solches Verständnis überprüfen. Insofern sollte auch der Prozess der Archivierung, der hier erst seinen Anfang genommen hat, dies im Blick behalten, denn gerade über diese Praktiken wird darauf fokussiert, wie sich ein tanz-technisches Selbstverständnis äußert, und wie dadurch auch der Kanon in Bewegung gehalten werden kann.

Vorab muss verwiesen werden auf zahlreiche andere Materialien zur Geschichte der Tanzfabrik, die neben dem Videomaterial vorhanden sind, doch bislang noch nicht katalogisiert wurden. Dies betrifft vor allem das „Papierarchiv“ mit Programmen, Kritiken, u.a. von AnnA Stein, die als Grafikerin von Anfang an die Entwicklungen der Tanzfabrik begleitet hat, aber auch die Fotografien Udo Hesses, der die Tanzfabrik seit den frühen 1980er Jahren dokumentierte, wie auch die persönlichen Sammlungen der einzelnen Mitglieder, ergänzt durch Briefe, Notizen, etc.

Darüber hinaus gab es in den vergangenen Jahren bereits zahlreiche unterschiedliche Formate, die sich in Interviews und Gesprächen mit der Geschichte der Tanzfabrik auseinandergesetzt haben; sie sind zum größten Teil in den Beständen des Mime Centrums oder der Tanzfabrik selbst archiviert.


Kriterien und Schwierigkeiten der Sichtung, Auswahl und Beschreibung

Wie und welche Stücke wählten wir für das Digitalisierungsprojekt aus – ohne damit einen bereits bestehenden Kanon einfach nur zu bestätigen und damit bestimmte festgeschriebene Hierarchien fortzuschreiben? Vielmehr galt es bei diesem Projekt gerade die Vielfältigkeit der Aktivitäten und der Mitglieder des Kollektivs der Tanzfabrik sichtbar werden zu lassen. Natürlich stellt sich hiervon ausgehend erneut die Frage nach der Perspektive: Was war damals warum spannend? Was wäre es aus heutiger Sicht – unter welchem jeweiligen Fokus und in welchem Kontext? Und wie erreichen wir es so unvoreingenommen als möglich die vorhandenen Quellen – zwischen Projektion und  Nicht-Wissen – einzuordnen?

Besonders wichtig erschien es uns, nicht nur die „signature piece“ einzelner Choreograph*innen in den Mittelpunkt zu rücken, und damit bereits bestehende Interpretationen zu reproduzieren sowie einen bereits etablierten Kanon zu bestätigen, sondern insbesondere das Selbstverständnis der Tanzfabrik als Kollektiv, das sich bis heute durch die enge Verflechtung von Produktion, Präsentation und Ausbildung definiert, hervorzuheben. Insofern wurden gerade auch kleinere und „bunte Abende“ wie z.B. Begegnungen, Konta.te, Tanz akut mit aufgenommen, die Digitalisierung von Bändern mit Workshops mit Steve Paxton und Lisa Nelson oder Mark Tompkins (aus dem Tanzarchiv Köln), sowie der Werkstattprogramme, stehen allerdings noch aus. 

Zur zeitlichen Einordnung: Von vorneherein stand fest, dass wir aus Gründen eines begrenzten Budgets und Projektzeitraums erst einmal nur die Anfangsjahre würden beleuchten können, jedoch auch hier stellte sich schnell heraus, dass, ohne die Vorgeschichte der Tanzentwicklung in Berlin zu kennen, das Verständnis dazu fehlen würde, diese Entwicklungen entsprechend einzuordnen. Aus diesem Grund luden wir neben weiteren Zeitzeugen auch Irene Sieben zu einem Gespräch. Sie gab wertvolle Informationen über die Entwicklungen des Wigman-Studios, Manja Chmiél, die Gründung der Gruppe Motion sowie der Philadelphia Zero Moving Company. Aber auch ein weiteres von Heike Albrecht geführtes Gespräch mit Hellmut Gottschild und Christine Vilardo war in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Der Zufall, dass Christine Vilardo – eine der Gründerinnen der Tanzfabrik – nach Jahrzehnten in den USA im Winter 2017 erstmals wieder Berlin besuchte und gemeinsam mit Reinhard Krätzig erneut ins Gespräch kam, war einer der überaus aufschlussreichen Ausgangspunkte. Darüber hinaus initiierte Andrea Keiz die Installation „Kollektives Erinnern“, in der zahlreiche Gespräche u.a. mit Jacalyn Carley, Dieter Heitkamp, Claudia Feest, Annette Klar, Riki von Falken, Ka Rustler geführt wurden – die Ergebnisse dieser Gespräche sollen in einem anderen Projektzusammenhang ebenfalls  veröffentlicht werden. In diesen Gesprächen zeigte sich, dass es viele Geschichte/n gibt – und Ansätze sie zu erzählen – eine Auseinandersetzung mit einzelnen Aspekten dieser Tanzgeschichte kann insofern auch nur in individuellen thematischen Auseinandersetzungen geschehen und steht zu großen Teilen noch aus.

So wirft die auch finanziell und förderungsbedingte, und daher eher pragmatisch gesetzte zeitliche Begrenzung des Projekts – Anfang der 1990er Jahre – am Ende das Problem auf, dass hiermit eine gewisse Schieflage entsteht, da z.B. Protagonist*innen der Anfangsjahre wie Helge Musial erst später mit eigenen Stücken vertreten waren. Es ist daher eine der zentralen Anregungen des Projekts, möglichst bald auch Möglichkeiten zu schaffen, die es erlauben, die Dokumente der nachfolgenden Jahre zu digitalisieren und zu archivieren und damit für die weitere Forschung zugänglich zu machen.


Zum Rechercheprozess und den Annotationen

Vorhandene Bestände sichten und vergleichen, zwischen den verschiedenen zu einer Aufführung vorhandenen Bändern auswählen, und das Recherchieren nach Detailinformationen gehörten somit zu den wesentlichen Tätigkeiten der vorbereitenden Arbeit. Denn das Projekt kann lediglich als eine solche verstanden werden, es leistet die Bereitstellung des vorhandenen Materials zur weiteren Bearbeitung – die eigentliche tanzwissenschaftliche Arbeit kann erst von hier ihren Ausgang nehmen.

Bereits die Sichtung konfrontierte uns mit einem immer wieder auftretenden Problem: 

Wie sollte eine Generation an Studierenden, die selbst keine direkte Beziehung zur Berliner Tanzgeschichte oder zur Tanzfabrik hat, sich diesem Material nähern?

Die teilweise nicht immer ganz leicht zu beantwortende Grundfrage „Wer sind die jeweiligen Tänzer*innen der Aufführung?“ ließ sich über Quersichtungen, Fotografien, in Gesprächen mit anderen Protagonist*innen beantworten.  Daten von Aufführungsdatum und Aufführungsort wurden so verzeichnet, dass sie innerhalb einer Vernetzung mit anderen Archiven und Wissensquellen auffindbar sein werden.

Hierfür war nebst der Hilfe von einzelnen Choreograph*innen das bereits erwähnte Papierarchiv von AnnA Stein von entscheidender Bedeutung – ohne das auch für die zukünftig weiter dazu Forschenden das digitale Archiv nur bedingt nutzbar ist. Eine sorgfältige Aufarbeitung wäre hier in einem nächsten Schritt unbedingt wünschenswert. Des Weiteren müssten auch die bislang in unterschiedlichsten Zusammenhängen geführten Gespräche und Interviews archiviert und katalogisiert werden. 

Ein nächster Schritt betraf die Form der ANNOTATION: 

Hier stellte sich die Frage einer angemessenen, genauen und doch relativ „neutralen“, beobachtenden Beschreibung der Stücke – kurz und möglichst wenig interpretierend – ausgehend von folgenden Fragen:

Welchen Fokus gibt es? Handelt es sich um ein Stück, das sich auf einen spezifischen „Inhalt“ bezieht? Wenn ja, in welchem Verhältnis stehen Inhalt & Form? Stehen wie bei Jacalyn Carley oder Claudia Feest Textverarbeitungen im Mittelpunkt? Gibt es eine dezidierte Auseinandersetzung mit Bewegungsrecherche? 

Inwiefern sind die einzelnen Biographien der beteiligten Choreograph*innen/ Tänzer*innen dafür von Bedeutung – z.B. wenn es sich um die Wigman-Nachfolge handelt, oder wenn die Sportstudierenden der Freien Universität eine spezifische Form der Contact Improvisation entwickelten oder Ka Rustler ihre Erfahrung aus dem Kursen in somatischen Praktiken, die sie in den USA besucht hatte, einbrachte.

Welches Bewegungsvokabular wird verwendet und in welcher Weise? (Bewegungsbeschreibungen: Frage der Ausführlichkeit und Exaktheit). Welche Verschiebungen oder Neuerungen in Bezug auf das Verständnis von Choreographie lassen sich daraus ablesen?

Gibt es Referenzen zu anderen Choreograph*innen und Stilen, wie z.B. Mary Wigman?

Gibt es Einflüsse durch Gastspiele, wie z.B. von Merce Cunningham, Meredith Monk oder des Tanztheaters, so z.B. bei Heidrun Vielhauer und Sygun Schenck? Welche Rolle spielten die Workshops z.B. mit Steve Paxton oder Mark Tompkins auch für die Stückentwicklung? Gibt es Querverbindungen zu anderen Künstler*innen, Tänzer*innen, anderen Companies wie z.B. Gerhard Bohner, Cesc Gelabert – in Berlin oder außerhalb (insbesondere wichtig angesichts des Inselstatus von Berlin bis 1989)?

Welchen Bezug gibt es auf ein Außerästhetisches, wie z.B. Dieter Heitkamps Buddy Bodies als erstem reinen Männerstück, das schwule Männlichkeit thematisierte? Welche gesellschaftlichen und welche ästhetischen Veränderungen lassen sich daran ablesen? 

Gibt es Bezüge zur damaligen Kultur-/Politik? 

Gibt es Querverbindungen in die anderen damaligen Berliner „Szenen“, wie es zum Beispiel die Videobänder zum Hausbesetzerbenefiz vermuten lassen? 

Verschiedene politische Aktionen fanden damals parallel statt, deren Spektrum von der Hausbesetzung über die Produktion und Verteilung von Flugblättern bis hin zur Organisation und Durchführung von Theaterworkshops reichte, dort trafen sich die gleichen Leute, es herrschte die gleiche Energie, die utopische Verbindung von Kunst und Leben wurde in der WG ebenso erprobt wie im Kollektivmodell der Tanzfabrik – was jedoch nicht ohne Reibungen und Konflikte ablief. Auch an diese eher außerkünstlerischen Aspekte ließen sich zahlreiche Forschungsfragen anschließen, z.B.: wäre im Hinblick auf die politischen Bezüge auch die Diskussion um das Freie Theater der 1970/80er Jahre erneut zu befragen: Inwiefern verliefen Entwicklungen innerhalb der erst entstehenden „freien“ Tanzszene anders als im Theater? Inwiefern wurde das Modell, das idealistisch Pädagogik, Produktion und Präsentation verband, doch eher eine Zweck-Mittel Relation, innerhalb derer das Unterrichten ganz pragmatisch auch die (je eigene) künstlerische Arbeit finanzierte? 

Besonders intensiv mussten auch die Rechtefragen geklärt werden: Welche Musik wurde verwendet? Oder wenn sie eigens komponiert worden war – von wem? Welche Texte o.a. Quellen und Materialien wurden verwendet? Entsprechend der Klärungen mit den Urheber*innen wird das Video-Material daher entweder online veröffentlicht oder ist nur im Mime Centrum direkt vor Ort  einsehbar.