Mit der Ausstellung Krokodil im Schwanensee im Jahr 2003 in der Akademie der Künste wurde der Versuch unternommen ostdeutsche sowie westdeutsche Tanzgeschichte nach 1945 in ihren Entwicklungen bis in die Nachwendezeit in den Blick zu nehmen. Innerhalb dieses ambitionierten Projektes gingen jedoch die Experimente der Berliner Szene neben den „großen“ Namen eher unter; die Beschreibungen der Situation des Tanzes in Berlin und Deutschland beschränkten sich im Wesentlichen auf die großen Namen und Werke.
Zunächst ließe sich die Entstehung der Tanzfabrik vor dem Hintergrund der Situation des Tanzes im geteilten Berlin seit den 1960ern erklären. Die folgenden Notizen stützen sich größtenteils auf ein Gespräch mit Irene Sieben, sowie auf das von Heike Albrecht geführte Interview mit Hellmut Gottschild, zweier Zeitzeugen des Tanzes schon vor der Gründung der Tanzfabrik.
Im Gespräch mit Irene Sieben ließen sich die Anknüpfungen an die Vorkriegs-Avantgarde – insbesondere an das Studio von Mary Wigman, das diese in der Rheinbabenallee 35 in Dahlem nach dem Krieg 1949 wieder eröffnete, in vielen Details nachvollziehen. Irene (zeitweise Irina) Sieben war selbst Schülerin bei Mary Wigman. 1962 folgte sie Manja Chmièl in deren eigenes Studio in die Fasanenstraße 23, assistierte ihr und tanzte in ihrer Gruppe Neuer Tanz Berlin. Manja Chmièl hatte als Technik-Lehrerin und persönliche Assistentin Mary Wigmans von 1952-1962 mit ihrer faszinierenden Bewegungsprache einen großen Einfluss auf die Entwicklung des jungen Tänzern*innennachwuchses im Studio der alternden Mary Wigman. Nicht zuletzt Chmièls Pamphlet „Mein Tanz ist nicht Ausdruckstanz...“, in dem sie ihren Tanz der zeitgenössischen Malerei und Musik gleichsetzte, führte zum Zerwürfnis zwischen Chmièl und ihrer einstigen hochverehrten Meisterin.
In den Nachkriegsjahren konnte Berlin trotz der in der Zeit des Nationalsozialismus emigrierten oder ermordeten Künstler*innen auf eine durchaus sehr lebendige Tanzlandschaft blicken, die auch von außen wahrgenommen wurde. Darüber hinaus wurde für die Inspiration von außen auch von Seiten der Kulturpolitik gesorgt, so waren beispielsweise 1960 im Rahmen der 10. Berliner Festwochen Gastspiele von John Cage, Charles Tudor und Merce Cunningham im Duett mit Carolyn Brown zu sehen. Gewiss übten diese Gastspiele Einfluss auf die Künstler*innen in Berlin aus, die anhand konkreter einzelner Beispiele nachverfolgt werden müssten.
Darüber hinaus diente die damals regelmäßig stattfindende „Stunde des Tanzes“ dem regen Austausch zwischen Ost und West. Mit dem Bau der Mauer 1961 jedoch brach dieser Austausch von Tänzer*innen und Informationen zusammen, und der Tanz wurde spürbar geschwächt. Viele Künstler*innen verließen Berlin. Nur wenige amerikanische Student*innen wagten es noch, bei Wigman in der ummauerten Stadt zu studierten. Bald blieb in West-Berlin allein das Ballett an der Städtischen Oper/später Deutschen Oper unter der Leitung von Tatjana Gsovsky (sowie ihre Reisetruppe „Berliner Ballett“), später Kenneth MacMillan, das jedoch nach einigen Jahren, in denen wie vor dem 2. Weltkrieg Ballett und Anteile des Ausdruckstanzes sich gegenseitig inspirierten, sich wieder eher dem Klassischen und nur vereinzelt neuen Strömungen des Balletts zuwandte, während im Osten der Stadt unter der Leitung Tom Schillings wegweisende Produktionen an der Komischen Oper entstanden und in Westdeutschland – allerdings nicht in Berlin – das Tanztheater von Pina Bausch, Reinhild Hoffmann oder Johann Kresnik gesellschaftliche Umwälzungen reflektierte.
Aus diesem Vakuum heraus, in dem lediglich Dore Hoyer und Manja Chmièl (Hoyer wurde 1967, Chmièl 1968 mit dem Deutschen Kritikerpreis geehrt) noch als Avantgarde und Alternativen zum klassischen Ballett gelten konnten, gründeten Brigitta Herrmann, Hellmut Fricke-Gottschild und Inge Katherine Sehnert (alle drei Meisterschüler im Mary Wigman Studio) bereits 1962 die Studiogruppe Motion. Nach ihren Tänzer-Prüfungen vor der Deutschen Bühnengenossenschaft und nach ersten Auftritten in der Akademie der Künste (1961 und ‘62) mit Manja Chmièls etwas zeitversetzt ebenfalls im Wigman Studio etablierter Gruppe Neuer Tanz Berlin, hatte Motion einen ersten eigenen Auftritt an der Staatlichen Hochschule der Bildende Künste, an der Gottschild zuvor sein Malereistudium absolviert hatte. Die Studiogruppe Motion und kurz darauf die Gruppe Neuer Tanz Berlin von Manja Chmièl (bis 1968 als Quintett oder Septett tanzend) waren die ersten freien, unabhängigen Tanzcompagnien in West-Berlin. Für kurze Zeit waren auch in beiden Gruppen die gleichen Tänzer*innen zu erleben, alle Wigman-Studentinnen.
Motion gilt also nicht nur als erste freie, unabhängige Tanzcompagnie in West-Berlin und Motor für Neuerungen im Tanz unter Einbeziehung verschiedener Medien und Künste, der jedoch vielfach als zu kühl und abstrakt empfunden wurde, sondern darüber hinaus antizipierte sie bereits wegweisende neue Formen der kollaborativen Zusammenarbeit. Dem Trio Motion gesellte sich auch zeitweise die amerikanische Wigman-Studentin Leanore Friedland/Ickstadt zu (1981 Gründerin der Tanz Tangente mit Irene Sieben. Im ersten Jahr der Tanzfabrik sorgte sie dort auf Vilardos Wunsch auch für einen geregelten Tanztechnikunterricht.)
1967 schloss das Mary Wigman Studio. Im gleichen Jahr kam der Regisseur und Musiker Manfred Fischbeck zur Gruppe Motion. Gemeinsam hatte man sich von den Improvistionstechniken des Living Theaters faszinieren lassen. Bei Motions letztem großen Multimedia-Projekt „Countdown für Orpheus“ in der Akademie der Künste, in dem u.a. auch Susanne Linke und Irene Sieben tanzten, war er Co-Regisseur. 1968 verließ das Dreier-Kollektiv Berlin (allerdings ohne Sehnert, dafür mit Fischbeck) in Richtung Philadelphia/US, wo es heute noch als Group Motion Multimedia Dance Theatre besteht.
Gottschild verließ die Gruppe 1971 um die Zero Moving Company zu gründen, zu deren Kreis unter anderen Christine Vilardo und Fred Holland gehörten. In beiden Tanzkollektiven kamen schließlich die Tänzer*innen zusammen, die wenige Jahre später in Berlin die Tanzszene verändern sollten. Entsprechend dem Geist der 1968er galt auch hier das Modell der engen Verbindung von Kunst und Leben, das künstlerische wie gesellschaftliche Utopien verwirklichen wollte.
In Berlin lieferte zu dieser Zeit vor allem das 1970 von Nele Hertling und Dirk Scheper gegründete Festival „Pantomine Musik Tanz Theater“ – kurz pmtt – Inspiration, das internationale Produktionen aus diesen Kunstsparten präsentierte und im Rahmen dessen u.a. auch Arbeiten von Trisha Brown, Steven Petronio, Douglas Dunn, David Gordon, u.a. zeigte, die eine enorme Resonanz fanden. Ebenso erwähnenswert ist die Ausstellung „SoHo – Downtown Manhattan“, die 1976 im Rahmen der Berliner Festspiele in der Akademie der Künste gezeigt wurde, und ein Kapitel auch deutschen Künstler*innen in New York widmete.
Im gleichen Jahr präsentierte Group Motion Arbeiten im Rahmen des pmtt-Festivals in der Akademie der Künste, Teil der Company war zu diesem Zeitpunkt Jacalyn Carley, zukünftiges Mitglied der Tanzfabrik: Im folgenden Jahr kamen sie erneut, neben den Aufführungen hatten sie ein Workshop-Programm im Gepäck. Gemeinsam mit Tonio Guerra und Ric Schachtebeck zeigten die drei als „Triptychon Tanz Theater“ im Einstein-Café am Nollendorf-Platz einzelne Stücke. Schachtebeck mietete das ehemalige Media-Center, um dort einen 5-tägigen Workshop in Bodydynamics und Tanzimprovisation zu geben – er hatte durchaus mit einigem Interesse gerechnet, doch die Teilnehmerzahl belief sich auf etwa 380!