So wie es Reinhardt Krätzig, einer der Gründer beschreibt – war es durchaus kein Zufall, dass sich im Jahr 1978 die Tanzfabrik gründete. Dass die Workshops auf einen derartig großen Erfolg stießen, lag an der damaligen Situation der Tänzer*innen im geteilten Berlin. Seit dem Bau der Mauer hatte es kaum Austausch gegeben, dem Inselstatus Berlins wurde zwar durch Gastspiele versucht zu begegnen, diese konnten jedoch den Hunger nach alternativen Formen des Tanzes nicht befriedigen. Generell gab es keine offenen Tanzklassen, außer den Profitrainings an der Staatlichen Ballettschule. So fielen Kurse wie „Selbsterfahrung durch Bewegung“, den der Sportstudent Reinhard Krätzig anleitete, oder die öffentlichen Contact-Workshops von Christine Vilardo oder Jacalyn Carley, die anfänglich an verschiedensten Orten stattfanden, auf fruchtbaren Boden; schnell waren die Kurse überbucht, die Nachfrage war enorm. Jedoch fehlten nach wie vor geeignete Räumlichkeiten, um diesem Ansturm gerecht werden zu können. Nach langer Suche fanden Reinhard Krätzig und Helmut Kugel im Winter 1977 die Räume des Ernst-Gettke Hauses in der Möckernstraße, einer ehemaligen Lampenfabrik, die als Produktions- und Aufführungsort sowie als Wohnort gemietet werden konnten.
Das Kollektiv, wovon ein Teil zu unterschiedlichen Zeiten auch als WG in der Tanzfabrik wohnte, bestand zunächst aus einem Kern um Christine Vilardo, Fred Holland, Antja Kennedy und Estelle Eichenberger, dem Musiker Horst Zinsmeister, sowie Helmut und Petra Kugel, hinzu kamen nach und nach Dieter Heitkamp, Norbert Mauk, Sygun Schenck und Heidrun Vielhauer, Sabine Lemke, sowie der australische Choreograph Roger Pahl und schließlich Claudia Feest. Schüler*innen der ersten Generation, die zunehmend in den Stücken mitwirkten und einige selbst auch unterrichteten waren Riki von Falken und Frank Deutschmann, später auch Ingo Reulecke und Helge Musial. Lehrende waren Leanore Ickstadt, selbst ehemalige Wigman- und Motion-Tänzerin, Tonio Guerra sowie Petra Kugel u.a.. Später unterrichtete Heidrun Vielhauer klassischen Tanz und Jacalyn Carley Modernen Tanz für die Gruppe. Das tägliche Training wurde erst später eingeführt, nachdem sich die lose Gruppe der „Tanzfabrikler*innen” fester zusammenschloss und die Projekte mehr tänzerische Technik erforderten. Die Klassen waren offen. Nachmittags und abends gab es Laienunterricht, den die Mitglieder der Tanzfabrik abhielten, die selbst eine Ausbildung oder ausreichende Vorbildung hatten. Einige der Tanzfabrikler*innen trainierten zusätzlich an anderen Schulen, um sich fortzubilden oder ihr tänzerisches Niveau zu halten.
Das Kollektiv etablierte ein Beitragssystem, das es ermöglichte, je nach Einkommenssituation höhere oder geringere Kursgebühren zu zahlen, oder aber sich im Austausch an den notwendigen Renovierungsarbeiten zu beteiligen oder andere Aufgaben zu übernehmen. Es gab keine Anzeigen, und so wurden die Informationen über die Workshops durch Zettel und Kopien sowie mündlich und über die schwarzen Bretter an den Universitäten weitergegeben und verbreitet.
Damals wurde zunächst das Studio 1 als Trainings-, und Aufführungsraum ausgebaut, bald darauf folgte Anfang der 1980er das Studio 2 und später die anderen Räume, die zuvor als Gemeinschaftsraum, Küche, Durchgangsort fungierten und teilweise in Schlafräume parzelliert waren. Aus den heruntergekommenen Räumen mit Steinfußboden, ohne Heizung und Sanitär wurde ein Tanzraum mit Schwingboden – vorerst selbstgebaut; Lottogelder ermöglichten 1983 erstmals einen professionellen Ausbau.
Mit Everybody Dances eröffnete am 29. November 1978 die Tanzfabrik – der Titel war Programm: orientiert an Rudolf von Labans Anspruch: „Jeder Mensch ist ein Tänzer“ und im Geist des Postmodern Dance stand in der Tanzfabrik das demokratische Tanzverständnis jenseits virtuoser Balletttechnik, durchaus aber mit einem Fokus auf der Verschiedenartigkeit unterschiedlicher Tanztechniken im Zentrum. Tanzprofis, Laien, Musiker*innen, und Sportstudent*innen trafen sich um gemeinsam zu tanzen, zu improvisieren, zu diskutieren.
Christine Vilardo präsentierte erste Solarbeiten, 1979 lud Jacalyn Carley Sygun Schenck ein mit ihr Ch Ch Changes zu erarbeiteten. 1980 zeigten Christine Vilardo und Fred Holland Geographies, Maps and Measures, Holland und Estelle Eichenberger Maße, Leanore Ickstadt und Vilardo Tanzstücke. Von diesen frühen Arbeiten ist leider weder Videomaterial noch ausreichend fotografisches Material vorhanden. Von den ersten gemeinsamen Choreographien Zirkel (1979), Reworks (1980) und Begegnungen I sind nur letztere aufgezeichnet.
Das kollektive Modell brachte aber auch Auseinandersetzungen mit sich, viele einzelne Entscheidungen forderten lange Diskussionen, hinzu kamen Unstimmigkeiten in Bezug auf die individuelle künstlerische Weiterentwicklung, die z.B. Auftritte in anderen Produktionen betraf, währen derer einzelne weniger Zeit in die Fabrik investieren konnten usw. Zum ersten Bruch kam es 1981: Christine Vilardo ging zurück in die USA, Reinhardt Krätzig an die Freie Universität und Fred Holland nach Paris.
Die erstmalige Förderung der sich erst herausbildenden freien Szene durch den Berliner Senat im Jahr 1983 und die darauf folgenden, steigenden Förderungen brachten der Tanzfabrik produktive Jahre, bis mit dem Fall der Mauer diese auf einen Schlag wegbrachen, bzw. auf ein Minimum schrumpften.