Der Riss
I. Der Riss ist eine abendfüllende Gemeinschaftsproduktion von Dieter Heitkamp und Gayle Tufts, die 1991 Premiere hatte. Es handelt sich bei dieser Aufnahme um ein Gastspiel in der damaligen Theatermanufaktur. Der Riss ist eine Hommage an die Grotesk-Tänzerin, Kabarettistin und Schauspielerin Valeska Gert, eine „szenisch choreographierte Annäherung“1 an die Geschichte der skurrilen und sozialkritischen Tänzerin der 20er Jahre, die in Berlin neue und revolutionäre Formen des Tanzes schuf. Gerts Tanzstücke lösten Skandale aus. Sie tanzte die Prostituierte (Canaille, 1919), den Tod oder den Straßenverkehr samt Verkehrsunfall. Im dritten Reich galt ihre Kunst als entartet und so musste Gert als Jüdin aus Deutschland fliehen, kehrte jedoch nach dem Krieg zurück. In der intensiven Auseinandersetzung mit Gerts Schaffen entwickelten Heitkamp und Tufts gemeinsam mit den Tänzer*innen Claudia Feest, Annette Klar, Sabine Lemke, Norbert Kliesch, Kurt Koegel, Helge Musial und Ka Rustler, sowie dem Musiker Michael Rodach, der die Musik komponierte, ein „Kuriositätenkabinett aus Seele, Rausch und grünem Spargel, Tanzmusik und rohem Fleisch.“2 Der Riss spiegelt den Humor und die Einzigartigkeit Valeska Gerts; entsprechend ist das Stück eine Collage aus Kabarett, Revue, Live-Musik, Sketches und Stimmungen die von Einsamkeit, über Kampf, Hysterie bis hin zu Gelächter reichen.3
II. Auf einer Bühne mit zwei Ebenen steht eine große Wand im Hintergrund auf der Buchstaben gekritzelt sind. Man erahnt darauf den Namen Valeska Gert. Der Riss wird begleitet von Live- Musik von Michael Rodach, Musial und Tufts, die gleichzeitig als eine Art Moderatorin des Stücks fungiert. Gesang, Musik, Sprache, Varieté und Sketche wechseln sich in einer großen Bildmontage ab. Feest, Klar, Lemke und Rustler tanzen in revueartiger Form zu verzerrter Zirkusmusik. Heitkamp und Kliesch finden sich in einem Sketch-artigen und akrobatischen Duett wieder. Texte von Gert werden zitiert und gesungen, Rhythmen werden durch Klatschen, Stampfen und indem sich die Tänzer*innen in Gert´scher Manier auf den Körper schlagen, kreiert. Musial tanzt ein zunächst klassisches Solo zu düsterer Musik, das in einem zittrigen Stepptanz endet. Es entstehen skurrile Gesellschaftstanz-Szenen, bei denen die Partner getragen werden, acht Tänzer*innen bewegen sich zwischen Tischen, Stühlen und Tonnen hin und her, während sie immer wieder in grotesken Posen verharren. Tufts hackt am seitlichen Bühnenrand Fleisch mit einem Fleischermesser. In 4er-Gruppen tanzen sie mit ausgestreckten Armen zu verzerrter Tangomusik. Koegel tanzt ein Solo zum verzerrten Sound von Rodachs Gitarre. Teller werden von einem zum anderen geworfen, Lemke sitzt mit ausgestreckten Beinen vor der Szenerie und zuckt und krabbelt. Gemeinsam kreieren sie ein expressionistisch anmutendes Kaleidoskop aus Licht, Musik und Bewegung als Hommage an die Avantgardetänzerin Valeska Gert.
NB: Teile der Hintergrundinformationen stammen aus einer Korrespondenz mit Dieter Heitkamp am 06.09.2017.
Archivsignatur der Akademie der Künste: AVM-33 10045 (https://archiv.adk.de/objekt/2926586)
1Feest, Claudia: „Prolog“, in Feest, C., Tanzfabrik e.V. (Hg.): Tanzfabrik Berlin, Berlin, Hentrich & Hentrich, 1998, S.6-10, hier S.7.
2„Terra incognita – Spurensuche im Unbekannten“, in: Feest, C., Tanzfabrik Berlin e.V. (Hg.): Tanzfabrik Berlin, 1998, a.a.O., S. 52-71, hier S. 63.
3 Ebd.