Terra incognita
I. Terra incognita – eine Tanzexpedition, ist eine abendfüllende Gemeinschaftsproduktion von Claudia Feest und Dieter Heitkamp, die 1987 Premiere hatte. Durch den gemeinsamen Hintergrund eines Biologiestudiums waren die beiden Choreograph*innen sehr interessiert an der Erforschung des menschlichen Körpers und seiner Bewegung. Inspiriert von Bonnie Bainbridge-Cohens Body-Mind Centering®, beschlossen sie dazu ein Tanzstück zu entwickeln. Zusammen mit den Tänzer*innen Lotte Grohe und Helge Musial, widmeten sich Heitkamp und Feest diesem Thema als einem noch weithin unbekannten Forschungsfeld. „Wir haben unser Stück Terra incognita – Eine Tanzexpedition genannt, weil es inhaltlich um eine Reise durch die Geschichte der Bewegung geht, das heißt vom Ursprung der Bewegung im Zellraum beginnend, über die Bewegungsentwicklung bis hin zur Zerstörung der Bewegung. Außerdem wollen wir, dass unsere Zuschauer uns auf dieser Reise durch die Bewegungsräume begleiten.“1
Das Stück gibt keine Antworten, sondern stellt Fragen: Wie entsteht Bewegung in den kleinsten Zelleinheiten, den Chromosomen, der DNA und dadurch das Leben in uns? Wie vollziehen wir während unserer jeweiligen individuellen Embryonalentwicklung die Bewegungsgeschichte der gesamten menschlichen Evolution nach?
Das gesamte Bewegungsmaterial zu Terra incognita wurde über Improvisation entwickelt, ebenso entstanden die Cello-Kompositionen von Sebastian Hilken aus der freien Improvisation auf ein bestimmtes Thema oder Bild. „Abgesehen von wenigen, fest komponierten Teilen entsteht die Musik aus vorgegebenen choreographischen Rahmen und musikalischem Material heraus immer wieder neu.“2 Diese Arbeitsweise unterstreicht den kritischen Aspekt des Stückes in Bezug auf die festgelegten und streng geometrisierten Bewegungsvorgaben im klassischen Ballett-Training und -repertoire. Zusammen kreieren Feest, Heitkamp, Grohe, Musial und Hilken eine „Reise durch unbekannte Räume unserer Wahrnehmung: Körperräume, Klangräume, Bildräume.“3
II. Die Zuschauer werden mit einem Sitzkissen unter dem Arm in den Raum geleitet, dabei führt sie ein Faden im Kreis um einen Vorhang herum, hinter dem ein surreales Schattenspiel zweier Körper aus deformiert wirkenden Bewegungen zu sehen ist. Es ist als schaue man in einen Zellkern. Blubbernde Laute erfüllen den Raum. Hilken liegt mit dem Cello auf dem Boden. Nachdem der Vorhang abgenommen wird, werden zwei Paare sichtbar. Grohe und Musial tragen leichte, im Rücken geschnürte, kurze und helle Kleidung. Sie verkörpern die Chromosomen X und Y, die sich aufeinanderliegend langsam entzweien, sich auf den Boden schlängeln und hin und her rollen. Feest (XX) und Heitkamp (XY) sind in schillernde silberne Anzüge gekleidet. Sie stellen die Verkörperung von Seele, Natur und Schöpfung zugleich dar.4 Die vier Tänzer*innen kommen miteinander ins Spiel, nutzen die Techniken der Contact Improvisation, laufen mit Drehungen umeinander herum, bilden eine Kette mit ineinander verhakten Armen und drehen sich zu dem intensiver werdenden Cellospiels Hilkens in Kreisen durch den Raum. Die Szenen sind betitelt mit Dunkler Raum, Lichter Raum, Zelle, Da war Embryohr – Vom Fisch zum Fleisch, Visionen im Kopfgewölbe, Geometrisierung, Das Mädchen und der Tod / Im Wirbel, Balance 3 und Waage.
Organische Bewegungen und zeitgenössisches Tanzvokabular werden gemischt mit dem Vokabular aus Ballett und Gesellschaftstanz, bevor sie zunehmend starrer und mathematischer werden und in einer totalen Mechanisierung enden5, gekennzeichnet durch schematische, gleiche Bewegungen, denen sich nur Grohe entziehen kann. In Terra incognita werden verschiedenste Objekte und Materialien sowie Texte, Dia-licht und Projektionen, die die Spielräume schaffen, eingesetzt. Der ganze Raum dient als Bühne und das Publikum wird gemeinsam mit den Tänzer*innen in Bewegung versetzt – und kann sich so auf eine phantastische Expedition durch die Bewegungsentwicklung des Körpers begeben.
NB: Teile der Hintergrundinformationen stammen aus einer Korrespondenz mit Claudia Feest am 14.08.2017.
Archivsignatur der Akademie der Künste: AVM-33 10023/2 (https://archiv.adk.de/objekt/2926506)
1Feest, Claudia, in: Offerte Informationen aus dem Kulturleben in Norddeutschland und Berlin (1987). [Fernsehsendung], SFB, 04.02.1987 (15:15min), Archiv der AdK, AVM33, 10022/2.
2Hilken Sebastian, in: Terra incognita, Programmheft, Tanzfabrik (Archiv: AnnA Stein).
3Henne, Claudia: „Immer unterwegs - eine lange Geschichte phantastischer Reisen“, in: Feest, Claudia, Tanzfabrik e.V. (Hg.): Tanzfabrik Berlin, Berlin, Hentrich & Hentrich, 1998, S. 32-39, hier S. 32.
4Offerte Informationen aus dem Kulturleben in Norddeutschland und Berlin (1987). [Fernsehsendung], SFB, 04.02.1987 (15:15min) Archiv der AdK, AVM33, 10022/2.
5Ebd.