Abendspaziergang
I. Abendspaziergang ist ein gemischter Abend, der in den frühen achtziger Jahren mehrfach aufgeführt wurde. Die vorliegende Aufzeichnung dieses Werkstatt-Abends, der in der Tanzfabrik Berlin stattfand, wurde 1982 aufgenommen.
An den Abenden der Veranstaltung wurde der ganze Gebäudekomplex der Tanzfabrik bespielt, von der Toreinfahrt über den Hof und die Proben- und Trainingsräume bis hin zu den Dächern. Das Publikum wurde dazu eingeladen sich mit den Tänzer*innen von einem Ort des Geschehens zum nächsten zu bewegen: ein gelenkter Spaziergang, in dem die Tänzer*innen den kommenden Ort der Aufführung ankündigen oder durch die Bewegungen andeuten, daher auch der Name Abendspaziergang. Die Choreograph*innen und Tänzer*innen der Tanzfabrik wollten mit diesem Format das traditionelle Prinzip der Frontalansicht des Publikums auf die Bühne auflösen bzw. durchlässig machen. Dies gab den Zuschauer*innen die Möglichkeit die Aufführungen aus verschiedenen Blickwinkeln zu erleben.
Die Gruppe bestand aus professionell ausgebildeten Choreograph*innen und Tänzer*innen der Tanzfabrik sowie aus semi-professionellen Tänzer*innen, wie zum Beispiel den Schüler*innen der Kurse, die in der Tanzfabrik gegeben wurden sowie aus Autodidakten. Gemeinsam haben sie Choreographien und Tanztheaterstücke in unterschiedlicher Länge und in unterschiedlichen Konstellationen erarbeitet. Diese Aufnahme zeigt 16 kurze Stücke, die von Tanz, Tanztheater, Musik bis hin zur Improvisation reichen.
Da es nicht möglich war, alle Tänzer*innen sowie die Titel der Stücke zu identifizieren, werden diese nur namentlich genannt, wenn sie bekannt sind. Die Dauer bezieht sich auf die Filmausschnitte der Aufnahme.
II.
1. Stück
(Dauer: 02:30min; Musiker: Helge Musial)
Helge Musial spielt in der Toreinfahrt der Tanzfabrik Klarinette.
2. Stück
(Dauer: 01:30min; Tänzer*innen: Jacalyn Carley, Frank Deutschmann)
Jacalyn Carley und Frank Deutschmann stehen draußen hintereinander auf einem Teppich, während die Zuschauer im Hintergrund vorüber ziehen. Zu klackenden Geräuschen drehen sie sich zueinander hin sowie voneinander weg.
3. Stück
(Dauer: 03:10min; sechs Tänzer*innen)
Sechs Tänzer*innen bespielen den Parkplatz der Tanzfabrik mit einer Improvisation, in der sie die Mauer und Autos mit einbeziehen. Zeitweise erklingt der Sound eines Autoradios, zu dem sie zuletzt alle in einem Auto verschwinden.
4. Stück
(Dauer: 04:20min; ein Tänzer)
Auf einem Treppenvorsprung vollzieht ein Tänzer mit Badehose bekleidet sportliche Bewegungen. Dabei benutzt er ein nicht definierbares Objekt und zeichnet mit Kreide auf den Boden.
5. Ballerina
(Dauer: 03:00min; Tänzer*innen: Riki von Falken, Uwe Wenzel)
Diese Performance, die durch ein Fenster angeschaut wird, findet in der Fabriketage gegenüber des Eingangs zum Treppenhaus statt. Riki von Falken führt in einem Ballerina-Kleid wiederholt dieselben Ballettübungen vor, bevor sie Uwe Wenzel (im Anzug) immer wieder aufs Neue auf den Arm springt.
6. Stück
(Dauer: 10:30min; zwei Tänzer*innen)
Eine Tänzerin bewegt sich langsam im futuristischen Stil auf einer Bühne, neben der eine Leinwand steht, auf die Dias projiziert werden. Die Arme und Beine sowie der Rücken sind mit Stäben fixiert, so dass keine Beugungen der Gelenke möglich sind und die Bewegungen steif wirken. Zeitgleich bewegt sich eine andere Figur, die in einen schwarzen Plastiksack gehüllt ist, kriechend über den Boden. Sobald der Kopf sichtbar wird, gehen die beiden Tänzerinnen in einen sanften körperlichen Kontakt.
7. Stück
(Dauer: 13:10min; Tänzer*innen: Dieter Heitkamp, Sabine Lemke, Riki von Falken und fünf weitere Tänzer*innen)
In diesem Tanztheaterstück bewegen sich acht Tänzer*innen auf einer leeren Bühne im Studio 1 der Tanzfabrik. Im Hintergrund läuft deutsche Schlagermusik. Die Frauen tragen kurze Tenniskleidung und die Männer lange Hosen und Hemden. Sie bewegen sich klassisch in Paarkonstellationen und kreieren, teilweise synchron, ein amüsantes Stück, das an die Klischees eines Tennisclubs erinnert.
8. Tanzzeit
(Dauer: 04:10; Tänzerin: Jacalyn Carley)
Dieses Solo wird von Jacalyn Carley in einem hellem Aerobic-Outfit in Studio 1 getanzt. Carley erzeugt mit ihren Körperbewegungen wie Klatschen, Schnippen, Steppen und Springen, Sounds und verschiedene Rhythmen, die sie liegend oder stehend ausführt.
9. Stück
(Dauer: 01:20min; Tänzer*innen: Riki von Falken, Uwe Wenzel)
In diesem kurzen Intermezzo führen Riki von Falken und Uwe Wenzel ihr vorheriges Stück zu A-capella-musik weiter, bevor von Falken die Besucher*innen in einer Ballerina-Pose weiter durch eine verhangene Tür lenkt.
10. Stück
(Dauer: 03:30min; Tänzer: Dieter Heitkamp und ein weiterer Tänzer; Musiker: Helge Musial)
Diese Improvisation findet auf den Dächern der Tanzfabrik statt. Die Bewegungen Dieter Heitkamps, der zu Helge Musials Saxophonspiel am äußersten Rand des Daches tanzt, sind geprägt von weiten Armbewegungen und ausfallenden Schritten. Auf dem gegenüberliegenden Dach befindet sich ein weiterer Tänzer, mit dem er über die Blickverbindungen und die Bewegungen in Kontakt tritt.
11. Stück
(Dauer: 08min; fünf Tänzer*innen)
In diesem Tanzstück, gezeigt in Studio 1, bewegen sich fünf Tänzer*innen, gekleidet in langen dunklen, eng anliegenden Kostümen zu melancholischer Musik. Die Bewegungen, zeitweise synchron und durch lineare sowie diagonale Formationen geprägt, erinnern teilweise an Merce Cunninghams Choreographien.
12. Stück
(Dauer: 5min; Tänzerin: Riki von Falken)
Riki von Falken tanzt ein Solo im Trainingsoutfit, zur Musik von Osibisa, Welcome Home. Ihre Bewegungen sind geprägt von weiten fließenden Armbewegungen und schnellen Drehungen und mit ihren weiten Sprüngen sowie Rennen, das immer wieder von sanftem, langsamen Bewegungsmaterial abgelöst wird, nutzt sie den gesamten Bühnenraum.
13. Stück
(Dauer: 05:20min; Tänzer*innen: Jacalyn Carley, Frank Deutschmann)
Dieses Duett von Jacalyn Carley und Frank Deutschmann ist eine indirekte Fortführung von Stück 2. Zu jazziger Musik kreieren die beiden ein Tanztheaterstück, das von Bewegungen und Gesten der Anziehung und Abstoßung, des Sich-Hervortuns und von prätentiösem Verhalten geprägt ist.
Dieses Stück ist in leicht abgewandelter Form in Anna Blume ist Rot (1985) von Jacalyn Carley wiederzufinden.
14. Ballerina
(Dauer: 01:00min, Tänzer*innen: Riki von Falken, Uwe Wenzel)
Das Publikum wird weiter durch einen schmalen Flur gelenkt. Riki von Falken und Uwe Wenzel befinden sich in einer Art Flurinstallation – einer beleuchteten Box, in der sie unbeweglich verharren; Wenzel überreicht von Falken einen Blumenstrauß. Auch diese Performance ist eine indirekte Weiterführung von Stück 5 und Stück 9.
15. Stück
(Dauer: 04:40; fünf Tänzer*innen)
In einem kleinen Raum mit Wandbemalung bewegen sich fünf Tänzer*innen mit den Techniken der Contact Improvisation. Sie tragen weiße Maleranzüge, auf denen sich die Motive der Wandbemalungen wiederholen.
16. Das Paar
(Dauer: 08:10min; Tänzer*innen: Jacalyn Carley, Frank Deutschmann)
Dieses Tanztheaterstück von Jacalyn Carley und Frank Deutschmann ist wiederum eine indirekte Fortführung von Stück 13. Zwischen den Zuschauern und dem Bühnenraum befindet sich ein Bilderrahmen, der auf halber Höhe aufgehängt ist. Carley betritt als hochschwangere Frau die Bühne und spielt mit Deutschmann eine Paarsituation durch, innerhalb derer die Rollenklischees der Geschlechterbilder der 60er Jahre vertauscht sind: Sie trinkt apathisch Bier, wirkt machohaft, während er sich übergibt, verzweifelt wirkt und über seine Sprache und Gesten eine Atmosphäre von passiver Gewalt schafft. Mit Projektionen auf eine Leinwand im Hintergrund sowie verbal werden Anschuldigungen ausgetauscht, ansonsten ist dieses Duett geprägt von Stille, Langsamkeit und Trägheit. Dennoch schafft diese entfremdete Gewalt eine absurde Verbundenheit zwischen Carley und Deutschmann.
NB: Teile der Hintergrundinformationen stammen aus einer Korrespondenz mit Claudia Feest am 14.08.2017 sowie mit Dieter Heitkamp am 06.09.2017.
Archivsignatur der Akademie der Künste: AVM-33 10181 (https://archiv.adk.de/objekt/2928688)