Die Austauschbarkeit von Mensch und Tier ist die wichtigste und spektakulärste Modalität des Monströsen in der Mythologie. Die Ziege als das am weitesten verbreitete Haustier, spielte dabei in allen Zeiten eine besondere Rolle, unter anderen in zahlreichen ägyptischen Kulten. In dem Bemühen sich von solchen Praktiken zu unterscheiden wurde die Ziege mit dem Aufziehen des Christentums weitgehend dämonisiert und beschuldigte Hexen und Zauberer regelmäßig auf schwellende Hörner und Bocksfüße hin untersucht.
Das Ritual vom Sündenbock wird im Buch Leviticus XVI wie folgt beschrieben. Während der Zeremonien zu Yom Kippur, dem Versöhnungstag an welchem auch das Gebet „who by fire“ gesprochen wird, wählt der Priester zwei Ziegenböcke aus, von denen einer Gott gewidmet ist und geopfert wird, während dem Anderen die Sünden des Volkes übertragen werden. Hierfür legt der Priester die Hand auf den Kopf des Tieres und schickt es dann hinaus in die Wüste. Das nun hochkontaminierte Tier wird dann von einigen Männern verfolgt und in einen Abgrund gestürzt oder über die Klippen getrieben. Dieses „Wegschicken mit den Sünden“ bedeutet dabei eigentlich Wegschicken mit der Gewalt bzw. den inneren Konflikten der Gemeinschaft.
Der französische Theoretiker René Girard behauptet dieser Vorgang stellt eine ritualisierte und systematisierte Ersatzhandlung für eine ältere Opferpraxis dar bei der es um ein reales menschliches Opfer ging. Laut dieser These neigen archaische Gesellschaften in Stresssituationen dazu ihre Gewalt willkürlich auf ein Mitglied ihrer Gemeinschaft zu projezieren. Dieser „Sündenbock“ wird erst von der aufgestachelten Menge getötet und da sein Tod paradoxerweise für Frieden sorgt, im Nachhinein geheiligt. Das Heilige und die Gewalt, so auch der Titel von Girards Hauptwerk sind also untrennbar verbunden und eine massgebliche Triebfeder für Kultur denn im Ritual wird versucht diesen Effekt zu wiederholen. Sündenböcke sprich Opfer sind universell und Rituale ähnlicher Art sind bei vielen Völkern bekannt.
Die nuancierte Bedeutungsverschiebung vom scapegoat, dem gesandten Bock, le bouc emmisaire hin zum Sündenbock ist neueren Datums und vielleicht das Haupterbe der jüdisch-christlichen Tradition, denn heutzutage gebrauchen wir den Begriff nur noch in seiner neueren Bedeutung: Der Sündenbock ist jemand der zu Unrecht beschuldigt wird, ein unschuldiges Opfer.
Nun scheint es so als ob dieses Ritual aus einer längst vergangenen Zeit stammt und natürlich opfern wir keine Ziegen mehr aber in unserem täglichen Leben haben wir identische Mechanismen. Anderen die Schuld zu geben, andere zum Opfer zu machen durchzieht sowohl die private als auch die politische Sphäre. In den Medien werden Sündenböcke in rasender Geschwindigkeit produziert: die Chinesen, die Ostler, die Drogendealer, die Arbeitslosen, die Heuschreckenkapitalisten oder der Staat, die Globalisierung, die Kirche, die Institutionen ganz allgemein sind schuld. Sündenböcke werden quasi im Sekundentakt angeboten und wenn wir bei dem ein oder anderen auch nicht zustimmen so gibt es garantiert einen der genau für uns passt. Jede Gruppe von Leuten, jede Kompanie, jeder gute Actionfilm, ja jede Kindheit kennt und braucht mindestens ein Opfer/Sündenbock.
Dabei fällt es uns sofort ins Auge wenn Andere ungerechte Beschuldigungen erheben, beispielsweise der Chef seinen Ehekrach an der Sekretärin auslässt aber umso schwieriger ist es solches Handeln bei uns selbst zu erkennen. Das Stück „who by fire“ versucht nun mit einer Gruppe von sehr unterschiedlichen Darstellern (Tänzer, Sänger, Schauspieler) auf spielerische Weise und einfachen Mitteln solche Formen von „Scapegoating“ in unserem Alltag zu entdecken und zu bearbeiten. Der Ausgangspunkt ist dabei in erster Linie der eigene Erfahrungshintergrund der Darsteller. Who by fire ' vom Fluch und Segen der Sündenböcke.
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