Nachwort zur zweiten Auflage:
Als dieses Buch 1997 in seiner ersten Auflage erschien, war sein Gegenstand sowohl in der interessierten Öffentlichkeit, als auch in der Praxis und Theorie des Theaters noch ein weitgehend unerschlossenes Feld. Obwohl Wsewolod E. Meyerhold wie selbstverständlich zu den Theateravantgardisten des 20. Jahrhunderts gezählt wurde, war über die von ihm entwickelte Biomechanik als praktischer Ausbildungs- und Spielmethode für Schauspieler zu diesem Zeitpunkt nur sehr wenig bekannt. Ein Grund dafür war, dass mit der durch Stalin 1940 veranlassten Hinrichtung Meyerholds eine für ihre Zeit moderne theaterästhetische Konzeption abrupt beendet wurde und nach dem Tod Eisensteins auch alle Zugänge zu den Dokumenten und Quellen dieser Methode verschlossen waren. So wurden die später überlieferten seriellen, zum Teil fälschlich angeordneten Fotoreihen, die kurzen Filmsequenzen biomechanischer Etüden, die Abbildungen der konstruktivistischen Bühnenbildentwürfe oder die verstreut erschienenen Texte Meyerholds zu alleinigen Ansatzpunkten aller späteren Versuche der Bezugnahme, Rekonstruktion und Anwendung der biomechanischen Methode. Bedingt durch diese fragmentarische und zum Teil widersprüchliche Materiallage blieben selbst die engagiertesten Versuche zumeist äußerlich; sie orientierten sich entweder an akrobatischen, grotesken, exzentrischen und slapstickhaften Bewegungen oder sie gerieten zu abstrakten, posenartigen Zitaten von Foto- und Filmfragmenten. Für eine vitale Auseinandersetzung mit Meyerholds Biomechanik fehlte darüber hinaus aber vor allem eine quasi leibhaftige, eine physische Verbindung zu den Quellen. Diese eröffnete sich erst 1991 auf einer Konferenz in Amsterdam, wo der bis dahin kaum bekannte russische Schauspieler Gennadi N. Bogdanow einige Etüden der Biomechanik Meyerholds demonstrierte. Das war ein unerwartetes, überraschendes Ereignis, musste man bis dahin doch davon ausgehen, dass es keine unmittelbar praktischen Zugänge zu den Quellen mehr geben könne. Noch mehr einer Intuition als schon einem Plan folgend, lud ich Bogdanow umgehend zu einem ersten Workshop nach Berlin ein, dem eine öffentliche Demonstration der Methode auf der Probebühne des Berliner Ensembles folgte. Es stellte sich heraus, dass in der Arbeit Bogdanows - einem Schüler Nikolai Kustows, dem früheren Instrukteur für Biomechanik am Meyerhold-Theater ' die Biomechanik gewissermaßen als unmittelbar physische Erinnerung „verkörpert“ war. Nach Amsterdam und Berlin erhielt Bogdanow nun Einladungen zu Workshops in Paris, Rom, Athen und London, später in die USA, nach Kanada, Australien, Hawai. Zwischen Gennadi Bogdanow und dem Mime Centrum Berlin wurden die Intervalle der gemeinsamen Arbeit beständig kürzer. Dominierte in den ersten Schritten der Zusammenarbeit vor allem die unmittelbar praktische Analyse und Handhabung der Elemente und Prinzipien der Biomechanik, so entstanden bald intensivere Fragen nach ihrem Kontext. In der Korrespondenz sowohl praktischer als auch theaterhistorischer Hinterfragung entstand das Problem, ob und wie aus dem Erlernen der Biomechanik, also ihrer individuellen, im Workshop (nach)vollzogenen Rekonstruktion, ein Weg zu einer zeitgemäßen theatralen Umsetzung zu finden sei. Im Kern war es die Frage danach, ob die Biomechanik über einen theaterhistorischen Aspekt hinaus überhaupt von Interesse sein könne. Mit dem Berliner Theaterwissenschaftler und heutigen Chefdramaturgen am Staatstheater Stuttgart, Jörg Bochow, entstand eine Zusammenarbeit, die sich neben der Weiterführung praktischer Untersuchungen nun insbesondere der Recherche der Originalquellen zuwandte. Das Studium der Anfang der 90er Jahre gerade geöffneten Moskauer Archive, der Kontakt mit Maria Valentai-Meyerhold ' der Enkelin Meyerholds ' und dem Moskauer Theaterwissenschaftler Wadim Tscherbakow erschlossen einen Materialfundus, aus dem heraus Genesis und Funktion der Meyerholdschen Biomechanik gesicherter zu reflektieren waren. Darüber hinaus klärte der Dialog mit dem Moskauer Filmwissenschaftler und Leiter des Eisenstein-Archivs Naum Klejman bis dahin unbekannte Bezüge zwischen der Biomechanik und ihrer späteren Anwendung und Weiterentwicklung durch Eisenstein. Der weiteren praktischen Hinterfragung kam 1995 ein Zufall zur Hilfe. Torsten Maß, bei den Berliner Festspielen mit der Vorbereitung des Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekts „Berlin-Moskau. Moskau-Berlin“ beschäftigt, initiierte eine Zusammenarbeit der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin mit dem Mime Centrum und Gennadi Bogdanow. Mit den auf der Biomechanik basierenden Inszenierungen von Alexander Bloks „Die Unbekannte“ durch Thomas Ostermeier und Alexander Wwedenskis „Eine gewisse Anzahl Gespräche“ in der Regie von Christian von Treskow wurde die bis dahin weitgehend noch im „verborgenen“ realisierte Arbeit an der Biomechanik endlich Teil eines größeren öffentlichen Dialogs über Grundfragen des modernen Theaters und einer zeitgemäßen Schauspielausbildung. Beide Inszenierungen wurden vom Publikum und der Kritik einhellig gefeiert, die Faszination entzündete sich vor allem an einer so zuvor kaum gesehenen Vitalität und Präsenz schauspielerischen Agierens - „die Bühnen, die diese jungen Darsteller einmal beschäftigen, können sich die Finger lecken!“, schrieb Peter Hans Göpfert. Über den Erfolg hinaus aber wurde klar, dass ein wirkliches Erschließen der Möglichkeiten der Biomechanik nicht über Workshops und temporäre Arbeitsformen zu erreichen war. Die beiden Inszenierungen der „Ernst-Busch“ Hochschule ' realisiert in einem Zeitraum von einem halben Jahr ' machten den Zusammenhang von Ausbildungs- und Spielmethodik in der Biomechanik unmissverständlich deutlich: den bisweilen mühsamen aber unabdingbaren Prozess vom Erlernen, Rekonstruieren der Etüden über das Inkorporieren der Prinzipien bis hin zur Erlangung der Freiheit von der Nachahmung der Form hin zur lustvollen Improvisation und einer intelligenten Virtuosität. Und Thomas Ostermeier formulierte, noch ganz unter dem Eindruck dieser Erfahrung, „natürlich ist diese Methode überhaupt nur überlebensfähig, wenn irgend jemand in Berlin uns jetzt ein Theater gibt und wir ein Ensemble gründen können.“ Als 1997, zwei Jahre später, die Erstauflage dieses Buches quasi als Resümee sowohl der theaterhistorischen Recherche als auch einer intensiven praktischen Arbeit erschien, verfügte Ostermeier mit der „Baracke“ am Deutschen Theater bereits über „sein“ Theater und hatte gerade die englische Gegenwartsdramatik für sich entdeckt. Er hatte aber auch einige der biomechanisch ausgebildeten Schauspieler seines Jahrgangs zu sich geholt und inszenierte nun zusammen mit Gennadi Bogdanow Brechts „Man ist Mann“ als groteskes, absurdes Spiel. Erneut bewährte sich der fast nahtlose Übergang des täglichen Trainings der Etüden in den Prozess des Erfindens von Spielvorgängen. Die Inszenierung basierte auf einer sehr akzentuierten Körpersprache, steigerte die Momente des Artistischen, Akrobatischen bis zum Zurücktreten des Textes und der Sprache, weil „mit den Körpern fast alles erzählbar wurde“, so Tilo Werner, der Darsteller des Galy Gay. In gewisser Weise als Kontrapunkt zur Dominanz des kraft- und atemzehrenden Moments der Artistik und Akrobatik der „Mann ist Mann“ Inszenierung erarbeitete Gennadi Bogdanow im Jahr 2000 die Uraufführung von „Goebbels Tisch“, einer fast epischen Stückvorlage für einen Schauspieler des jungen russischen Autors Farid Nagim. Tony De Maeyer, inzwischen einer der besten biomechanischen Schauspieler in der Nachfolge Bogdanows, offenbarte, welche Präzision und Vielfalt körperlichen Ausdrucks aus der Biomechanik zu beziehen ist. Zugleich rief die Inszenierung die Vermutung wach, dass die Biomechanik als Spielmethode ihre Entsprechung ganz besonders in der Ensemblearbeit mit ihren Möglichkeiten des Dialogs unterschiedlicher Rollenkonstellationen, in Rhythmik und Musikalität choreographischer Gruppenarbeit besitzt. Mit großem Engagement hat Gennadi Bogdanow in den letzten Jahren immer wieder Gelegenheiten genutzt, über seine pädagogische Arbeit hinaus in Inszenierungen in Großbritannien und Italien den Zusammenhang von Ausbildungs- und Spielsystem der Meyerholdschen Biomechanik unmittelbar zu verbinden und weiter zu entwickeln. In Deutschland ist die Biomechanik inzwischen gewissermaßen auf „Taubenfüßen“ unterwegs, d.h. ihre Spuren sind noch zart und verhalten, doch bei näherem Hinsehen wahrnehmbar, so in der Arbeit von Regisseuren wie Thomas Ostermeier, Christian von Treskow, Hasko Weber, Claudia Bauer, von Schauspielern wie Robert Beyer, André Szymanski, Mark Waschke. Doch eine sehr grundsätzliche Lücke ist bis heute nicht geschlossen, die einer kontinuierlichen, alle Elemente der Biomechanik umfassenden Ausbildung von Schauspielern. Dabei geht es um keinen Wettstreit oder ein Verdrängen von Methoden der Schauspielausbildung, wohl aber um einen beträchtlichen Zugewinn an Ausdrucksfähigkeit und Spielmöglichkeiten, Virtuosität und Ensemblearbeit, letztlich an Wirkung von Theater. In Italien, am 2000 von Claudio Massimo Paterno gegründeten „Internationalen Centrum für Studien der theatralen Biomechanik“ in Perugia, hat sich ein intelligentes Modell der kontinuierlichen Weiterbildung von Schauspielern etabliert. Die Arbeit mit der Biomechanik ist auch an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin auf Initiative der Studierenden in den letzten Jahren regelmäßig im Sommer als Zusatzangebot im Programm und die neu gegründete Baden-Württembergische Akademie für Darstellende Kunst hat mit einer ähnlichen Initiative eröffnet. Der Nachauflage dieses Buches sei der Wunsch mit auf den Weg gegeben, diese Impulse erneut zu stärken. Den vielen Nachfragen, insbesondere von jungen Schauspielern und Regisseuren, von Pädagogen und Theaterwissenschaftlern, ist nunmehr erneut ein Forum eröffnet. Dafür seien dem Autor Jörg Bochow und dem Alexander Verlag Berlin herzlich gedankt. Berlin im Januar 2010 Thilo Wittenbecher Mime Centrum Berlin
Powered by Froala Editor
Powered by Froala Editor