Die Aufführung der Mutter bildet in der Wahl des kritischen Brechtstücks nach einem Roman von Maxim Gorki noch die Verbindung zu der linken Studentenbühne der 60er. Es erzählt den Erkenntnisprozess der Pelagea Wlassowa (gespielt von Therese Ghiese als Gast), die am Anfang des Stücks der Revolution gegenüber eine skeptisch Haltung hat und dann langsam durch ihren nüchtern-praktischen Blick zur einer Art Mutter des Klassenkampfes bzw. „einer Klasse“ wird. Die „Erziehungsgeschichte“ der Mutter kann man auch in Entsprechung setzen zu der Entwicklung der Revolution und ihrer zunehmenden Organisation, die im Stück beschrieben wird.
In der Halle der Schaubühne sitzen die Zuschauer an drei Seiten einer schlichten und nach allen Seiten offenen weißen Spielfläche (Bühne: Klaus Weiffenbach), ausgestattet mit nur wenigen einfachen Möbeln. Die Schauspieler sind alle während der gesamten Aufführung anwesend, sie sitzen hinten an der vierten Seite auf Bänken und treten vollkommen unspektakulär auf, wenn sie eine Szene zu spielen haben. Passagen aus dem Roman werden gelesen, Übertitel und Regieanweisungen von Brechts Text angesagt. Die nüchterne, ausgestellte Spielweise der eigentlichen Handlung wird immer wieder durch kommentierende Lieder, ans Publikum gerichtete, beschreibende Worte aus einer Außensicht der Figuren oder auch Erzählszenen unterbrochen, alles eben die sogenannten Verfremdungseffekte. Man könnte sagen, dass hier versucht wurde, das Brecht-Theater in seiner Reinform lebendig werden zu lassen. So werden sukzessive bürgerlich- illusionistische Theatermittel abgebaut und eine „agierende Ästhetik“, das heißt eine Spielweise des Zeigens und der reflektierten Haltung entwickelt. Auf theatralem Weg sollte durch ein Zitieren und Studieren von Geschichte überprüft werden, inwieweit der Stoff seine Gültigkeit im Heute hat. Hier zeigt sich schon ein wichtiger konzeptueller Ansatz in der Arbeitsweise der Schaubühne, der später immer weiter perfektioniert wurde: Durch die Beschäftigung mit einem Abschnitt von Geschichte sollte über die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation nachgedacht werden.
Fernsehaufzeichnung (SFB) der Schaubühneninszenierung
REGIE: Wolfgang Schwiedrzik, Frank-Patrick Steckel, Peter Stein
[msb]
Powered by Froala Editor
Hauptseminararbeit Andreas Gründel 2003, Humboldtuniversität Berlin