Hugo von Hofmannsthal, der mit seinem Brief des Lord Chandos ein Manifest der Moderne geschrieben hat, wusste, warum er sich das Gewand eines mittelalterlichen Mysterienspiels borgte: In seiner und unserer Sprache, der Sprache der Skepsis, der Ironie, des Misstrauens in das Sprechen überhaupt, hätte er sein Thema nicht behandeln können: das der Endlichkeit unseres Lebens und das der Nichtigkeit unseres irdischen Besitzes. Und die daraus zwingend sich ergebende Frage nach Gott. Die christlich-katholische Ausrichtung des Werkes, die einen Gutteil des Unbehagens mit ihm ausmacht, muss dabei heute nicht mehr als theatralische Manifestation eines übermächtigen Kirchenstaates begriffen werden. Sehr wohl aber können wir uns, gerade durch die historische Distanz, die Hofmannsthal seinem Jedermann verordnet hat, abgleichend befragen, in welchem Zusammenhang wir Heutigen unsere „Werke“ betrachten. Aus welchen Überlegungen heraus wir unsere Ethik, unsere Moral ableiten. Durch welche Vorstellungen wir Tröstung und Hoffnung erfahren.
Vielleicht will der Jedermann weniger den Glauben anmahnen als seinen Verlust verdeutlichen. Weniger die vermeintlichen Sicherheiten der Kirche feiern als unsere moderne Unsicherheit beleuchten. Weniger christliche Demut fordern als mangelndes Misstrauen in unsere Selbstermächtigung beklagen. Weniger ein Jenseits in Aussicht stellen als einen leeren Himmel betrauern.
Die mittelalterlichen Mysterienspiele wurden von fahrenden Schauspielern auf Jahrmärkten dargeboten. Ihr frommer Inhalt war zugleich Vorwand für deftiges Theater. Die emblematischen Figuren boten reichlich Gelegenheit für pralle Darstellung des Lebens, und die subversiven und anarchischen Kräfte des Theaters obsiegten vermutlich über die Anliegen der Obrigkeit.
Arthur Kahane, der Dramaturg Max Reinhardts, bemerkte einmal, Theater zu machen sei so, als ob man das Allerheiligste einer Hure anvertraue. Allerdings betonte er, dass diese Mesalliance enorme Vorteile für beide Partner biete. Der Dramatiker Hofmannsthal hat sich mit diesem Thema mehr als einmal beschäftigt, ebenso Reinhardt. Die Sinnlichkeit des Spiels mit dem geistigen Auftrag der Literatur zu verbinden war ihr Anspruch. Nicht um der einen oder dem anderen zum Sieg zu verhelfen, sondern um die Gleichberechtigung beider Antagonisten im Verbund nachzuweisen. Der Jedermann ist eine Spielvorlage, die dieses Anliegen exemplarisch abbildet. Nicht umsonst fesselt er in Salzburg seit über neunzig Jahren sein Publikum.
Regie: Julian Crouch und Brian Mertes
Bühne: Julian Crouch
Kostüme: Olivera Gajic
Musikalische Leitung, Orchestrierung: Martin Lowe
Dramaturgie: David Tushingham
Choreographie: Jesse J. Perez
Lichtdesign: Dan Scully
Sounddesign: Matt McKenzie für Autograph
Festival: Salzburger Festspiele 2013
Mit: Cornelius Obonya, Brigitte Hobmeier, Peter Lohmeyer, Simon Schwarz, Sarah Viktoria Frick, Hans Peter Hallwachs, Jürgen Tarrach, Julia Gschnitzer, Patrick Güldenberg, Hannes Flaschberger, Stephan Kreiss, Fritz Egger, Katharina Stemberger, Johannes Silberschneider, Sigrid Maria Schnückel, Florentina Rucker und Tamzin Griffin, Doris Kirschhofer, Saskia Lane, Chad Lynch, Orlando Pabotoy, Jesse J. Perez, Penelope Scheidler, Robert Thirtle.
Cornelius Obonya – Jedermann
Brigitte Hobmeier – Buhlschaft
Peter Lohmeyer – Tod
Simon Scharz – Teufel
Sarah Viktoria Frick – Gute Werde
Hans Peter Hallwachs – Der Glaube
Florentina Rucker – Gott
Jürgen Tarrach – Mammon
Julia Gschnitzer – Jedermanns Mutter
Patrick Güldenberg – Jedermanns guter Gesell
Hannes Flaschberger – Dicker Vetter
Stephan Kreiss – Dünner Vetter
Fritz Egger – Ein Schuldknecht
Katharina Stemberger – Des Schuldknechts Weib
Johannes Silberschneider – Armer Nachbar
Sigrid Maria Schnückel – Der Koch
[csm/msb] https://archive.salzburgerfestspiele.at/archivdetail/programid/4754/id/0/j/2013 [24.04.2020]