Christina Ciupke und Jasna Vinovrški tauchen während der Recherche für ihre erste Zusammenarbeit in die Zeit um die Jahrhundertwende ein: Sie blättern in Geschichtsbüchern, Seite um Seite verschlingen sie fasziniert die Entwicklungen in Kunst und Kultur. Die Entwicklung des freien Tanzes jedoch bleibt oft unerwähnt. Material dazu findet sich in den Biographien der Pioniere des unabhängigen Tanzes, wie Mary Wigman, Rudolf von Laban und Isadora Duncan, die wiederum aus ihrer Perspektive einen komplexen Bezug zu den Entwicklungen der Zeit herstellen. Dennoch bleiben Lücken, Leerstellen, weiße Seiten. Diese regen Jasnas und Christinas weiteren Recherchehunger, aber auch ihre Fantasie an. Sie spekulieren über die Atmosphäre, den Geist dieser Zeit, ziehen Verbindungslinien, verfolgen Spuren in den Biographien, eröffnen Fragen an den Rändern der Geschichtsschreibung, führen Zwiegespräche mit ihren Vorgängern von vor 100 Jahren, einer Zeit voller Aufbrüche, Neuerungen und Umwälzungen in allen Lebensbereichen. Was hätten wohl die Künstler*innen von damals über ihre Arbeit von heute gedacht? Würden sie gar einen Einfluss ihrer Arbeit zu erkennen glauben? Was bedeutete eine prekäre künstlerische Lebenssituation damals, was heute? Inwiefern waren sich die Epochen ähnlich? Was bedeuten Reduktion und Unmittelbarkeit damals und heute? Gibt es parallele Tendenzen zurück zur Natur? Welche Errungenschaften prägen den Lebensrhythmus und damit die Vorstellung von Raum und Zeit? Wie ist die Wahrnehmung von Zeit und wie wird sie in einer Bühnensituation gestaltet? Sie sind fasziniert davon, dass sowohl damals wie heute eine allgemeine Wahrnehmung von Schnelligkeit und Beschleunigung das Lebensgefühl der Menschen prägt. In der zweiten Hälfte des 19.Jh. wird das Eisenbahnnetz überall in Europa ausgebaut, wodurch sich Reisezeiten massgeblich verkürzen und Orte gefühlt zusammenrücken. Die technischen Möglichkeiten im Zuge der Industrialisierung ermöglichen neue Konstruktionen wie Turmbauten, die den Zeitgeist zum Ausdruck bringen. Der zur Weltausstellung 1889 gebaute Eiffelturm wird zur Sensation. Aber vor allem werden zur Jahrhundertwende in der Physik innerhalb kürzester Zeit gleich mehrere bahnbrechende Konzepte formuliert, die unter anderem die bisherige Unabhängigkeit von Raum und Zeit in der Euklidischen Geometrie umstürzen. 1905 formuliert Einstein seine Relativitätstheorie und führt den Begriff der Raumzeit ein. Heute bestimmen Entwicklungen in der Informationstechnologie, künstlichen Intelligenz und virtuellen Realität maßgeblich unsere Zeit- und Raumwahrnehmung. Auch diese bringen Rufe nach Entschleunigung und alternativen Lebensformen mit sich. Die Verbindung von Technik und Körper ist aber in fast allen Bereichen des Alltags nicht mehr wegzudenken. Die Technik wird nicht erst mit dem Internet der Dinge eigenständig Agierende in einer Gesellschaft aus Menschen und Maschinen. Die Philosophie des Neuen Materialismus beschreibt die materielle Welt genauso als Koproduzenten bzw. „Partizipanden“ der sozialen Praxis wie den Menschen. Vor diesem Referenzraum wird Zeit ein weiteres Element dieser Kollaboration. Mit ihr und durch sie reflektieren die beiden in ihrer Zusammenarbeit ihre künstlerische Tätigkeit. Das weiße Papier, mit dem die beiden arbeiten, stammt aus früheren Arbeiten: Sie blicken nicht nur 100 Jahre zurück, sondern auch in ihre eigene Vergangenheit, die sie im Dialog auf der Bühne zu neuem Leben erwecken. Die Szene mit dem A4 Papier stammt aus Jasnas früher Arbeit Catch 22, die Uhrenszene nimmt Bezug auf Christinas frühe Arbeit Zeitränder. Christina Ciupke lebt und arbeitet als Choreografin und Performerin in Berlin. Ihre Projekte entwickelt sie mit Künstler*innen aus dem Bereich Tanz und anderen Künsten. Innerhalb dessen entwickelt sie spezifische Räume und Situationen, in denen Nähe und Distanz, Intimität, Zeitempfinden und das Zusammensein von Zuschauer*in und Performer*in immer wieder neu verhandelt werden. Eine langjährige Zusammenarbeit verbindet sie mit den Choreografen Nik Haffner, Mart Kangro, der Filmemacherin Lucy Cash, dem Bildenden Künstler Lars Ø Ramberg, dem Komponisten Boris Hauf und dem Dramaturgen Igor Dobričić. Von 2003 bis 2004 war Christina Ciupke Gastkünstlerin am Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (ZKM). 2013 erhielt sie einen Master of Arts in Choreografie (AMCh) an der Amsterdam School of the Arts. Ihre Arbeiten (wie „kannst du mich umdrehen“ (2011), „wait and see“ (2012), „undo,redo and repeat“ (2014)) touren national und international. Die Tanzfabrik Berlin ist seit 2014 Partnerin von Christina Ciupke in Berlin und präsentiert die meisten ihrer Arbeiten im Rahmen ihrer Festivalformate. Seit 2016 ist sie Künstlerin im europäischen apap – avancing performing arts project network. christinaciupke.com Jasna L. Vinovrški wuchs in Zagreb, Kroatien auf, lebt und arbeitet jedoch seit dem Zerfall Jugoslawiens im Ausland. Anfang der 90er Jahre studierte sie in Essen an der Folkwang Universität der Künste und arbeitete nach ihrem Abschluss als Tänzerin und Performerin mit verschiedenen europäischen Choreografen (u.a. Groupe Dunes, J. Schömer, C. Sagna, O. Duboc). In dieser Zeit schuf sie ihre ersten kürzeren Choreographien, von denen die Soloarbeit „Which Club“? mehrmals ausgezeichnet wurde. Mit dem Umzug nach Berlin im Jahr 2008 gründete sie gemeinsam mit ihrem Partner Clement Layes die Gruppe „Public in Private“, in der beide Künstler bis heute eigene choreografische Signaturen entwickeln, in enger künstlerischer Unterstützung zueinander. 2012 erhielt sie ihren Master in Choreografie am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) Berlin. Ihre jüngste Arbeit „Staying alive“ tourt durch ganz Europa und wurde 2017 auch in New York, USA, gezeigt. jasnavinovrski.com [Quelle: Abendzettel] {MHr}