DIE SÜNDFLUT
von Ernst Barlach
Premiere: 16. September 2004
Theater unterm Dach Berlin
Barlach holt sich "seinen Krempel" von der Straße, seine Abbilder sind ebenfalls nicht "sauber und schön", sondern verdreckt und hässlich. "Der Tod auf dem Misthaufen ist ein anständiger Tod." Mit der Bearbeitung der Sintflutgeschichte, die abgesehen vom Alten Testament auch in vielen anderen religiösen Zeugnissen und Legenden zentral auftaucht, entwirft er ein widerständiges Drama, das gerade die Fragen thematisiert, die in der biblischen Vorlage unbeantwortet und offen bleiben. Wie kann Gott sein eigenes Geschöpf für dessen Fehler bestrafen, woher kommt das Böse, wenn nicht von Gott, dem Schöpfer selbst? Calan und der Aussätzige bekommen die Rolle der Empörer zugewiesen, sie verkörpern diese offenen Fragen, einmal in wohlhabender Gestalt und einmal als vergessener hässlicher Rest der Welt. In der Macht und im Elend verbergen sich gleichermaßen die Zweifel am guten Willen Gottes. Calans Ideal ist die Selbstbestimmtheit, die Freiheit, Ungebundenheit und ein Egoismus, der zu Brutalität und Rücksichtslosigkeit führt. Noah kämpft um den geschützten Raum des Glaubens, lehnt darüber aber eine eigene Verantwortung ab. Er verleitet sich selbst und andere zu Passivität und hinnehmender Demut. Noah, der Gläubige, hält es für völlig normal, dass die Ausrottung anderen zugedacht wird. Calan, der Schlächter, begräbt seinen Knecht wie ein Kind. Noah ist auserwählt, er hat die richtige Nummer gezogen, während Calan unter Qualen krepiert. Gut und Böse, diese polarisierenden Begrifflichkeiten, wachsen aus einem Holz.
Barlach lässt Gott persönlich auftreten, er ist der Reisende oder Bettler, der durch die Geschichte wandert. In Susanne Truckenbrodts Inszenierung wird er zum Aktionskünstler, der am Gesamtbild formt. Er ist, wie Nitsch oft formuliert, als Künstler "in seinen eigenen Bildern", also Teil des Kunstwerkes.
Die Kritiken der Uraufführung 1924 am Landestheater Stuttgart schwankten zwischen großartigem Abend und reinem Dilettantismus und Langeweile. Barlachs Form der Einfühlung statt Abstraktion und sein Theaterverständnis, das dem Naturalismus und Symbolismus verhaftet ist, stößt ähnlich wie Nitschs "Inszenierung des Schlachthofes" ab und zieht zugleich magnetisch an. Wenn Barlach mit bezug auf seine realistische Darstellungsweise zu dem Schluss kommt: "Der Mensch und seine Geste besagen genug", meint er gleichzeitig auch eine mystische Anschauung der Dinge, die hinter die Masken schaut, um den verborgenen Wesensgehalt aufzudecken: "Das Phänomen Mensch ist auf quälende Art von jeher als unheimliches Rätselwesen vor mir aufgestiegen. Ich sah am Menschen das Verdammte, gleichsam Verhexte..." Diese Verbindung von Realismus und Mystik macht es so schwierig, Barlach zu inszenieren und löst gleichzeitig diese Kraft und Faszination aus, die von seinem Werk, aber auch von ihm ausgeht. Seine Figuren werden immer zu Personifikationen von ungenehmen Widersprüchen.
Nachdem Susanne Truckenbrodt 1997 Ernst Barlachs FINDLING im Rahmen der "Deutschlandtage" für die 47. Berliner Festwochen inszenierte, nähert sie sich nun ein zweites Mal diesem eigenwilligen Künstler. Die Inszenierung beinhaltet Abkehr und Zuwendung zum Text in einem, sie belässt ihn in seiner Mystik und modernisiert ihn gleichzeitig. Sie bewegt sich mit radikaler Material- und Körperverschwendung zwischen Gläubigkeit und Ungläubigkeit, zwischen einem naturalistischen Zugriff und verschiedenen Stilmitteln der Abstraktion hin und her. Ernst Barlach und Hermann Nitsch sind in dieser Verbindung gute Partner für die Behauptung und Verweigerung von Aussagen. Die Sintflut wird zur ekstatischen, aber sinnlosen Angelegenheit, ein fanatischer Feldzug und gleichzeitig inkonsequent in dem Wunsch nach Auslöschung und Erneuerung. Das vermeintliche Ende ist ein wiederkehrender Beginn mit den bekannten Chiffren. Die Arche ist Schiff, Arbeitsamt, Krisengebiet, Schlachtfeld, Grab oder Designersofa, die Warteschlange davor steht im Dreck. Das Hoffen auf Arbeit, auf Glück, auf Heilung, das Hoffen auf das bessere Leben, auf das Überleben, die Hoffnung darauf, auserwählt zu sein oder verschont zu werden, dauert an.
REGIE: Susanne Truckenbrodt
MUSIK: Daniel Dorsch
DRAMATURGIE: Peggy Mädler
BÜHNE: Mirella Weingarten
KOSTÜME: Halina Kratochwil
LICHT: Klaus Dust
TECHNISCHE LEITUNG: Matthias Schäfer
REGIEASSISTENZ: Jasmin Krausch, Paul Hartkopp
TECHNIKASSISTENZ: Michel Pürschel, Zolle
LAYOUT: Andres Castoldi
PHOTOS: Caroline Ortteni / Martin Brosch / Marcus Lieberenz
PRODUKTIONSLEITUNG: Klaus Dörr
Gott: Werner H. Schuster
Noah: Uwe Schmieder
Ahire, seine Frau: Christine Kugler
Sem, sein Sohn / Nachbar: Thomas Mai
Ham, sein Sohn / Nachbar: Mathias Kusche
Japhet, sein Sohn / Nachbar: Wolf Scheidt
Calan: Matthias Horn
Chus, sein Knecht: Cem Sultan Ungan
Awah: Nicole Janze
Zebid: Rahel Ohm
Ein buckeliger Aussätziger: Adolfo Assor
Ein junger Hirt: Andreas Uehlein
Chor der Engel: alle
Aufführungsrechte:
Jussenhoven & Fischer
Gefördert durch die StiftungKulturfonds, den Fonds Darstellende Künste e.V., Bonn und das Bezirksamt Pankow von Berlin.
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