ELEMENTS OF MINE, ein Film von Norbert Servos und Khaled el Hagar. "... Auf dem Bett ruhten zwei nackte Körper. Sie waren nebeneinander in völliger Reglosigkeit ausgestreckt; allein ihre Fingerspitzen berührten einander. Von Zeit zu Zeit ging über die Lider und die Stirnen der Schläfer der Schatten einer inneren Bewegung. Ich bewunderte schweigend ihre entspannten und kräftigen Gliedmaßen und die sorglose Atmung, unter der sich die Brust hob und die Hüften sich buchteten. Kein Schreck und kein widriger Gedanke ließ sie auffahren. Diese glatte Haut, auf der sich das Licht bündelte, kannte nur jenen Schmerz, der aus dem Vergnügen kommt. Diese halboffenen Lippen hatten niemals um etwas gefleht, nicht eine Träne hatte die Wimpern beschwert, deren Schatten manchmal über die Wangen spielte. Mein Herz begann zu klopfen. Es gab also etwas, das unberührbar war von der Traurigkeit. Den Beweis hatte ich ja vor mir. (...) Am Hals der Schläfer zitterte eine Ader. Ich betrachtete die beiden Körper näher: ich war der eine, und ich war der andere. Ja, die Freude, die sie durchlief, glich zwei beseelten Strömen in einer endlosen Bewegung: ihre Quelle fand sich in mir. Mein einsames Herz entsandte das Leben in jene ineinander verschränkten Fingerkuppen. Da, mitten in dem Tumult und dem Licht, wurde ich von einem solch gewaltigen Gefühl ergriffen, dass es mir die Seele aus dem Leib zu reißen schien, und schweißgebadet erwachte ich. (...) Ich erfuhr, dass ich den Sinnen angehörte. So zeigten sich die ersten Grenzen meines Wesens. (...) Ich spürte dabei weniger Erniedrigung als Vergnügen; denn meine Eitelkeit war so stark, dass ich ein fast ebensolches Glück empfand, mich zu erniedrigen, wie mich zu erhöhen. ..." (Julien Green, Der andere Schlaf). Wenn wir den Kokon der Kindheit verlassen, finden wir uns zunächst allein in unserem Körper und der Welt wieder. Diese Einsicht begleitet uns für den Rest unseres Lebens. Die Haut markiert die Grenze zwischen unserem eigenen und anderen Körpern, zwischen uns selbst und der Welt. Aber die Haut ist auch unser größtes Kontaktorgan. Berühren, Schmecken und Riechen sind unsere stärksten Sinneseindrücke ' stärker als Sehen und Hören. Ein Leben lang bleibt das Pendeln zwischen den Polen erhalten: die Erfahrung des Alleinseins - und damit der Verletzbarkeit und Sterblichkeit - und die Lust, sich im Andern zu verlieren. Wenn wir lieben, wenn wir den sinnlichen Attraktionen folgen, wollen wir für einen Moment unsere Endlichkeit vergessen und in die Landschaften eines anderen Körpers eintauchen. Die Erfahrung, dass es einen Ort gibt, der von der Trauer nicht erreicht werden kann, ist vielleicht der stärkste Grund für Hoffnung und Lebensmut. Deshalb wollen wir immer wieder dorthin zurück. Die ersten Schritte in die Welt der Leidenschaften und Obsessionen sind sinnlich, nicht notwendig sexuell. In diesem Sinn handelt ELEMENTS OF MINE von sinnlichen, erotischen Erfahrungen und vom Tanz. Der Film erzählt einen Tag im Leben zweier Tänzer. Mit zwei Objekten ' einer Half Pipe, wie sie Skateboarder benutzen, und einem Ikosaeder, einem Labanschen Raummodell ' ziehen sie durch Berlin und geben Straßenperformances: mal vor historischer, mal vor Hightech-Architektur. In ihren Alltag als Streetperformer mischen sich immer wieder Tagträume, die sie in Phantasiewelten abdriften lassen. Gespiegelt werden die beiden Hauptdarsteller von einem alten Paar, das mal wie ein Elternpaar erscheint, mal wie ein Vorgriff auf das künftige Altern der Protagonisten. Während die beiden Tänzer vor allem mit ihren sinnlichen Phantasien beschäftigt sind, handelt das alte Paar von der Liebe ' bis beide Linien sich kreuzen. Die Entdeckung, den Sinnen anzugehören, muss in jedem Alter neu gemacht werden. (NORBERT SERVOS). Ein komplexer Film, der in seiner Vielschichtigkeit dem Zuschauer mehrere schlüssige Lesarten anbietet, und zugleich ein Film, der das Dilemma der Rezeption interdisziplinärer Künstler offenbart. Wer Norbert Servos wahlweise primär als Autor, als Choreograph oder als Regisseur wahrnehmen will, erlebt etwa einen Spielfilm über zwei Strassenperfomancekünstler die zwischen Phantasie und Realität pendeln, einen Tanzfilm um die Themen Vereinzelung und Selbstfindung oder vielleicht einen Film der in experimentellem understatement magischen Charme entfaltet und dabei eine Fabel über urbanes Leben erzählt. Um sein Thema erzählen zu können muss Norbert Servos sich möglichen konträren Deutungen stellen; und genau dies gelingt ihm ' tiefgründig, spielerisch und leicht. ELEMENTS OF MINE lotet sein Thema ebenso entschieden wie unaufdringlich aus, er bedient sein sujet getreulich und reichert es, scheinbar nebenbei, um Valeurs wie eine poetische Bildsprache an. Vorangestellt wird ein Zitat von Julien Green: „I experienced that i belong to the senses. Thus were shown to me the first boundaries of my being (...) I was the one, and I was the other.“ (Julien Green, L´Autre sommeil / Der andere Schlaf, 1931. Der Roman beschreibt das Ende einer Kindheit, die Ablösung vom Elternhaus und den Prozess der Selbstfindung.) Und so lässt der Film sich auf spannende Weise auch wie ein Traum deuten. Die Symbolik der Traumbilder erzählt die Geschichte unterschiedlicher Bewusstseinsebenen. Die verstörende Erfahrung der Gleichzeitigkeit von Grenzen und Liebe, das Ringen mit den vertrauten Dämonen, innerer Widerstand gegen die Notwendigkeit loszulassen um empfangen zu können ' die Protagonisten müssen sich jeweils selbst als individuell, einsam und von der Aussenwelt getrennt akzeptieren, um die Erfüllung ihrer Sehnsucht zu finden: nämlich sich selbst wieder zu verlieren um in einem Partner aufgehen zu können. Objekte sind als klassische Traumsymbole lesbar, eine rote Halfpipe als Brücke, als Verbindungselement; ein Ikosaeder (geometrische Figur mit 20 Aussenflächen) als vielfache Berührungsfläche mit der Aussenwelt und zugleich als das von der Aussenwelt trennende Element; die Verwandlung in eine Frau, in einen Greis als eigene Seinszustände, als Anima und Animus, und zugleich als die Eltern, von deren Ablösung die Selbstfindung abhängt, das Erwachen des Selbst; die Unfähigkeit zu essen und zu trinken als Bild der Verweigerung Lebensenergie aufzunehmen; Badewasser das nicht zur Reinigung führt, weil ein Anderer dies verhindert, Regen welcher reinigend wäre aber noch nicht angenommen werden kann, Stürze in Wasser, die eine Konfrontation mit dem Unterbewussten und auch ein vom Sockel stossen der Eltern visualisieren, schliesslich eine spielerisch ringende Begegnung im Brunnen - während gleichzeitig Anima und Animus zu Harmonie finden und gemeinsam Nahrung zu sich nehmen, sich in Intimität und Nähe wieder finden - und endlich: Wasser, das in eruptiven Fontänen eines Brunnens gegen die Schwerkraft aufwärts stürzt. Das Spiel mit den Wachzuständen und dem Träumen der Figuren verleiht dieser Lesart einen zusätzlichen Reiz. ELEMENTS OF MINE bietet jedem Zuschauer die Freiheit eines eigenen Erlebnisses an. Vielleicht ist Norbert Servos vor allem anderen ein Erzähler der es auch wagt, auf Sprache zu verzichten. (dS). Eine Produktion der BOOMTOWNMEDIA GmbH&Co.KG Berlin in Coproduktion mit NDR | Arte, in Zusammenarbeit mit DanceLab Berlin. Preis für herausragenden Film und Auszeichnung für die beiden Tänzer Jorge Morro und Nicola Mascia für charismatische und elektrisierende Darstellung ' „Best on-Screen Performance“ ' beim 13. Moving Pictures Festival for Dance in Film and Video, Toronto 2004. Preis für den besten Sound, 4emes Rencontres De L’Image, Cairo / Ägypten, verliehen durch Ambassade De France En Republic Arabe D’Egypt, 2008
Jorge Morro, Nicola Mascia, Olga Winokan, Tom Fletcher, Fabian Pinot, Stine Lethan