Tango ist die Seele Argentiniens. Er ist zeitlos, populär und quicklebendig, er ist sowohl eine Praxis als auch eine Kunstform. In ihrem neuen Stück spüren die französische Choreografin Mathilde Monnier und der argentinische Autor und Journalist Alan Pauls seiner besonderen Bedeutung nach. Ausgehend vom Jahr 1978, in dem in Argentinien die Fußball-WM stattfand und die Militärjunta regierte, erzählen sie in “El Baile” die Geschichte und Gegenwart des Landes wie des Tanzes. Verbunden wird diese mit den Kindheitserinnerungen und Lebensgeschichten ihrer virtuosen Tänzer*innen, die direkt aus Buenos Aires kommen. // El Baile // 36 Jahre sind vergangen zwischen “Le Bal” von Jean-Claude Penchenat und “El Baile”, seinem untreuen argentinischen Nachfahren. Für Europa nur ein Augenblick. Aber eine schwindelerregende Ewigkeit für Argentinien, ein Land, das in der Zeit mehr erlebt hat als andere in einem Jahrhundert: militärische Aufstände, Hyperinflation, Plünderung, plötzliche Regierungswechsel, terminale Krisen, Wiederauferstehungen. Wie soll man in einem neunzig-minütigen Tanz solch ein zuckendes, orientierungsloses, brodelndes Land fassen, in dem Vorkommnisse nicht stattfinden, sondern sich wie Geister oder Alpträume immer wiederholen? “El Baile” greift manche Prinzipien von Penchenats Original auf: den Ballsaal als Ausgangssituation, eine Art Sprechverbot, den Wunsch, die neuere Geschichte des Landes durch ein Ensemble aus Körpern zu inszenieren. In “El Baile” wird die Geschichte des Landes nicht erzählt sondern komponiert, aber in dem Wissen, dass das, was es vorgibt zu komponieren, eine Gesellschaft ist, deren Leidenschaft, wahre Leidenschaft, es ist, sich zu zersetzen, zu stürzen, zu zerschmettern und dann, in einem letzten Anflug von Euphorie, allen zu beweisen, dass sie nicht gestorben ist. Es herrscht hier keine Logik des Fortschritts, sondern es geht ums Stürzen und heroische Überleben, verstärkt durch eine leicht veraltete, fragile aber bewegende Theatralität. Im Argentinien von “El Baile” findet alles immer gleichzeitig statt. Alles ist zeitgenössisch. Daher auch das musikalische Zusammenleben von Klassikern und aktuellen Hits, der letzten Popsongs und martialischer Gesänge, von Radio-Hits und Kindheitserinnerungen, billiger Balladen und der Poesie der Zambas. Die Geschichte ist zweifellos präsent, aber so wie man sie jeden Tag auf den Straßen Argentiniens sehen und empfinden kann: als Ruine, wie die Trümmerlandschaft, die übrig bleibt, nachdem die Geschichte ausgebrochen ist. Stimmen aus dem jenseits dringen vor, sie sind verformt durch ein verletztes Gedächtnis, rezitieren alte Militärmärsche; bestialische Körper, die weiden und sich präsentieren bevor sie ins Schlachthaus kommen; Körper, die versuchen sich vor den Bomben zu retten; Körper, die sich der Vulgarität des Bildes ausliefern; Körper, die von einem Fußball erschossen weitertanzen, oder gar weiterjubeln… Hier vermischen sich Fragmente des Alltags in einer besetzten Stadt (die Militärdiktatur von 1976–1983), die verstörende Kehrseite einer landwirtschaftlichen Mythologie, die sich durch die Geschichte des Landes zieht, die Falklandkriege, der Exhibitionismus der 90er Jahre, die makabre Gewohnheiten eines beliebten Sports, der “Leidenschaft der Massen”…. Und im Herzen dieses Trümmertheaters zwei absolute Totems des Argentiniertums: Fleisch und Tango. Das Fleisch, Grundnahrungsmittel der Heimat, Basis einer “Kuh-Kultur” (die Kuh, ewiges Thema der ersten Schulaufsätze in Argentinien), von Anfang an von Blut, Opfer und Schlachtung geprägt. Und der Tango, musikalisches DNA, der die Leidenschaft mit dem Verlust verbindet und sexistische Stereotypen bis zur Parodie treibt. Nein, es geht nicht darum die Geschichte zu “repräsentieren”. Es geht darum, sie einzuberufen und sie lauern zu lassen, sie auf das Stück einwirken und fallen zu lassen, ihre Macht auf die Körper der Tänzer*innen wirken zu lassen, indem sie getrieben werden, getestet, glorifiziert, gequält, wie von einer Macht, die formt und untergräbt, die entfacht und erschöpft. So tanzt man die Geschichte. So tanzt man Argentinien. // CAST & PRODUKTION // Konzept & Choreografie: Mathilde Monnier, Alan Pauls Dramaturgie: Véronique Timsit Mit: Martin Gil, Lucas Lagomarsino, Samanta Leder, Pablo Lugones, Ari Lutzker, Carmen Pereiro Numer, Valeria Lucia Polorena, Lucia Garcia Pulles, Celia Argüello Rena, Delfina Thiel, Florencia Vecino, Daniel Wendler Bühne & Kostüm: Annie Tolleter Licht: Eric Wurtz Sound: Olivier Renouf Musikalische Beratung: Sergio Pujol Stimmtraining: Barbara Togander, Daniel Wendler Assistenz Choreografie: Marie Bardet Probenassistenz: Corinne Garcia Künstlerische Mitarbeit: Anne Fontanesi Produktionsleitung & künstlerische Mitarbeit: Nicolas Roux Künstlerisches Betriebsbüro: Nadia Guiollot Distribution: Julie Le Gall – Bureau CoKot Produktion: Le Quai, Centre Dramatique National Angers, Pays de la Loire Koproduktion: Chaillot – Théâtre National de la Danse, Théâtre de Namur, Teatro San Martín – Complejo Teatral de Buenos Aires, Théâtre-Sénart Scène Nationale, Festival Montpellier Danse 2017, La Bâtie – Festival de Genève Mit der Unterstützung von: Direction Générale de la création artistique Mit freundlicher Unterstützung des Goethe Instituts und des Institut Français. Tanz im August zu Gast im Haus der Berliner Festspiele. // Tanz im August 2017 // Künstlerische Leitung: Virve Sutinen Produktionsleitung: Isa Köhler Produktionsleitung & Assistenz der Künstlerischen Leitung: Marie Schmieder Kuratorin & Projektleitung: Andrea Niederbuchner Produktionsassistenz: Alina Sophie Lauer Technische Leitung: Patrick Tucholski Tanz im August ist ein Festival des HAU Hebbel am Ufer, gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds und der Senatsverwaltung für Kultur und Europa. [msb]
http://www.tanzforumberlin.de/produktion/el-baile/ [Stand 2017-10-23]