Notiz vom 13.11.2009, 16:45 Uhr:
Er: Du musst einen Revolver besorgen.
Sie: Und wer schießt?
Er: Du.
Sie: Und wer erschießt dann mich, nachdem ich dich erschossen habe?
Er: Du musst dir eben jemanden besorgen.
(beide lachen)
Sie lachen kein abgründiges Lachen, sondern ein befreiendes, befreites. Sie haben einen Dialog geschafft, etwas, das es lange nicht gab, weil er sich stets - auf der Suche nach dem, was er sagen wollte - irgendwo, irgendwie verdachte und auch das alles wieder vergaß. Heute leben allein in Deutschland ungefähr 1,3 Millionen Menschen mit Demenz, ihre Zahl wird sich bis zum Jahr 2050 verdoppeln. revolver besorgen, die neue Produktion von Helena Waldmann, geht ihren Spuren nach. Sind diese Menschen wirklich für die Welt verloren, wenn sich ihre Erinnerung nicht mehr den Ansprüchen der Welt fügt? Auch wenn sie wissen, dass ein Revolver den Abschied der Welt, die sie nicht mehr versteht, ermöglichen kann, lachen sie. Über das Befreiende, das im Vergessen steckt.
Die Fähigkeit, vergessen zu können, ist eine essenzielle Grundfunktion des menschlichen Gedächtnisses, die befreit wie die antike Lethe, der Strom des Vergessens oder die Löschtaste des Computers. Ausgerechnet im Theater, dieser professionellen Anstalt des Erinnerns, in der es um das Memorieren von Sätzen oder um das Wiederholen von Schritten geht, um das Erhalten eines Repertoires oder einer Tradition, zeigt Waldmann nun in ihrer Choreographie das Vergessen und die alles einnehmende Präsenz des Augenblicks. Die absolute Konzentration im Verlieren der Persönlichkeit, ohne Zweck, alles geschieht nur für sich selbst - perfekte Kunst.
Die Choreographin Helena Waldmann lebt in Berlin und arbeitete unter anderem mit Heiner Müller, George Tabori und Gerhard Bohner. Ihre Stücke feiern internationale Erfolge: unter anderem produzierte sie in Teheran "Letters from Tentland" für sechs iranische Frauen, in Palästina drehte sie ihren Kurzfilm "emotional rescue", zuletzt thematisierte sie in ihrer Performance "BurkaBondage" den islamischemSchleier und das japanische Bondage. Helena Waldmanns Werke bewegen sich damit im internationalen Kontext als ein Tanztheater der politischen Avantgarde.
(Quelle: Radialsystem V Abendzettel)
Stückentwicklung und Dramaturgie: Dunja Funke
Licthdesign: Herbert Cybulska
Kostüm: Mari Krautschick
Choreographische Mitarbeit: Tim Plegge
Radiofeature: Dunja Funke, Helena Waldmann
Dement-sprechende:
Nina de Fries, Sexualassistentin, Berlin
Prof. Dr.Dr. em. Reimer Gronemeyer, Autor und Soziologe, 1. Vorsitzender Aktion Demenz, Universität Gießen
Prof. Dr. med. Frank Heppner, Leiter des Instituts für Neuropathologie an der Charité, Berlin
Uta Stöcking, Sprecherin, Berlin
Tonschnitt: Tito Toblerone
Lichtassistenz: Yvonne Standtke
Tour Management: www.ecotopiadance.com
Schnitt: Tim Plegge
(Verfügbar: die gleiche Version mit englischen Untertiteln)
Brit Rodemund