INTERNATIONALES THEATERINSTITUT / MIME CENTRUM BERLIN

MEDIATHEK

FÜR TANZ

UND THEATER

Lehmen, Thomas

www.thomaslehmen.de
Information

1. BIOGRAFISCHES / WERDEGANG

Thomas Lehmen wird 1963 in Oberhausen geboren. Beispiele für grundlegende, wichtige Bewegungserfahrungen nach eigener Aussage: Fußball spielen (rechter Verteidiger), Krieg spielen. Lehmen ist Mitglied in mehreren Bands. 

Vor seinem Studium besucht er Kurse in Ballett und Modern Dance. Von 1986-90 studiert Lehmen an der S.N.D.O. (School for New Dance Development) in Amsterdam. Die Ausbildung der Schule kennzeichnet zu dieser Zeit eine enge Verbindung aus eigenverantwortlicher choreografischer Arbeit und Technikklassen, in denen statt bereits verschulter Tanzstile individuelle Techniken und Ansätze einzelner Künstlerpersönlichkeiten von diesen selbst vermittelt werden. Eingeschlossen sind Positionen aus der Performance, Musik und Bildenden Kunst sowie die Vermittlung von Kenntnissen in Lichtdesign und Theatertechnik. Lehrer (Auswahl): Nancy Stark Smith, Steve Paxton, Pauline de Groot, Karen Finley, Jaap Flier, z’ev, . 

Seit 1990 lebt Thomas Lehmen in Berlin. Neben eigenen choreografischen Projekten arbeitet er in den folgenden Jahren auch als Theatertechniker und in verschiedenen Bereichen in der Industrie und Handwerk. Nur wenige Engagements als Tänzer in Produktionen anderer Choreografen; ein Engagement bei Sasha Waltz in „Travelogue I“ 1993/94 beendet Lehmen vorzeitig. 

Als wichtigste Kooperation in dieser Zeit nennt er die Arbeit mit der Produktionsgemeinschaft Detektor von Frauke Havemann und Mark Johnson an „The Making of Lovers Report (1995, u.a. Tanzplattform München, Steirischer Herbst Graz, Eurodanse Mulhouse). Zusammenarbeit als Tänzer mit Mark Tompkins zwischen 1990 und 1999. Ab 1995 konzentriert sich Lehmen auf eigene choreografische Projekte. 1996 beginnt er mit dem Training von Shaolin Kung Fu bei Meister Bambang (Kung Fu Akademie Berlin). 

Mit seinem Solo „distanzlos“ von 1999 wird er über Berlin hinaus bekannt. Thomas Lehmen tourt und lehrt heute international. 

[STAND: FEBRUAR 2007]


2. ARBEITSANSATZ 

Der Wille und die Notwendigkeit zu einer „Selbstbefragung“ werden mittlerweile als Charakteristikum einer Richtung im zeitgenössischen Tanz beschrieben, die sich, beginnend in den 90er Jahren, immer intensiver mit dem eigenen Medium und dessen Rahmenbedingungen auseinander gesetzt hat. Thomas Lehmens Stück „distanzlos“, gleichzeitig auch seine erste international wahrgenommene Arbeit, bringt diesen Wechsel im Fokus des Interesses 1999, zu einem relativ frühen Zeitpunkt dieser Entwicklung in Deutschland, auf den Punkt. 

Sprache benutzt Lehmen seitdem in fast allen weiteren Stücken – wiederholt in Zusammenhang mit Konzepten und Methoden aus der Systemtheorie. In „distanzlos“ präsentiert der Choreograf und Tänzer statt einer fertigen Choreografie Ideen für ein Stück, die er von Notizzetteln abliest und auf der Bühne jeweils anreisst oder vorführt. Er spielt mit der Faktizität eines performenden Körpers und mit dem, was dieser beim Betrachter gemeinhin hervorruft: an Emotion, Interpretation, Projektion. Statt einer fiktionalen Erzählung entwickelt Lehmen funktionale Abläufe, die sich lediglich als das geben wollen, was sie sind – die Ausführung einer Idee, einer Aktion, einer Handlung – die sich aber gleichzeitig ihres eigenen unvermeidlichen Mehrwerts durch den Rahmen der Bühneninszenierung bewusst sind und sich seiner bedienen. Diese Thematik bildet eine Leitlinie in Thomas Lehmens Arbeit, die sich in ihrer konkreten Form und Anordnung von Projekt zu Projekt stark verändert. Trotzdem gibt es auch eine Kontinuität: 2006 beispielsweise kehrt der Choreograf in dem Solo „In All Languages“ zu der Idee des In-die-Tat-Umsetzens von Ideen zurück, indem er mit dem Rücken zum Publikum eine Stunde lang am Laptop Ideen entwickelt und teilweise austestet. Wenn sich Erzählung und Wahrheit auch ausschliessen – welche Möglichkeit einer schieren, simpelstmöglichen Präsenz auf der Bühne bestehen nichtsdestotrotz? In „mono subjects“ (2001) bearbeitet Lehmen diese Frage beispielsweise durch das strategische Offenlegen der faktischen Bestandteile der Aufführung. Reduktion, Vereinfachung wird zu einer Annäherung an die Performance als Realität, als spezifische Arbeitswelt. Man benennt die Bühnenwand als Bühnenwand, den Boden als Boden, die Performer als Performer und gibt damit dem Theater eine eigene Realität. Thomas Lehmen betont immer wieder, dass die Kunst für ihn lediglich eine Form von Arbeit, von Praxis darstellt. 

In „Stationen“ (2003) versammelt er Menschen verschiedener Berufe, vom Versicherungsvertreter bis zur Gourmetfachverkäuferin um einen Tisch, die sich bei Kaffee und Kuchen über die Funktionsweisen, Bedingungen und Methoden ihrer jeweiligen Arbeitsfelder austauschten. Aus der Entwicklung von Kategorien und Anweisungen, die einer systematisierten Auseinandersetzung mit Gegebenheiten wie Raum, Körper, Dynamik oder Interaktion in der Choreografie dienen, ergibt sich ein Bestand von Begriffen, den Thomas Lehmen als ein Set von Karten in der „Tool Box“ (2004) publiziert. Dieses System zur Erzeugung und Strukturierung von Choreografie bildet nicht nur die Grundlage für sein Stück „Funktion“ (2004), Lehmen vermittelt es in internationalen Workshops auch weiter. Ziel ist dabei nicht das Erlernen und Reproduzieren seines Tool-Box-Systems, sondern die Erarbeitung eigener Systeme durch die Teilnehmer anhand dieses Beispiels. Die Fragestellung, wie die Beziehung von sprachlicher und Bewegungs-Struktur geartet ist, gedacht und praktiziert werden kann, gekoppelt mit konzeptionellen Überlegungen zum Autorbegriff, fand zuvor bereits in „Schreibstück“ (2002) einen viel beachteten und diskutierten Niederschlag. Thomas Lehmen zeichnet bei diesem Projekt als Autor für eine Publikation mit dem Titel „Schreibstück“ verantwortlich, die pro Aufführung von jeweils drei Choreografen in der Form eines Kanons, also nebeneinander, aber sich zeitversetzt überschneidend, auf einer Bühne inszeniert und interpretiert wird. Die Partitur gibt die Struktur in Raum und Zeit vor, dazu eine fixe Reihenfolge von Themen, die in dieser Struktur umzusetzen sind wie „Disko“, „Nichts“, „Arbeiten“ oder „Grundlegende menschliche Funktionen“. „Schreibstück“ experimentiert mit der übertragung einer in der Dramenliteratur üblichen Trennung von Werk und Inszenierung, wobei der Wechsel und der übertragungsweg vom Medium Buch ins Medium Choreografie entscheidend ist. Darüber hinaus berührte es erneut einen Kernbereich von Lehmens Arbeit: die Frage, inwieweit Struktur und Freiheit, Systematisierung von Welt und ihr Konkretwerden unter Vermeidung vorgefasster, ideologischer Deutungsmuster, sich womöglich gegenseitig bedingen. 

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3. SELBSTAUSSAGEN 

„So lange wir die Leute hier vor uns haben, und du weisst, wir machen Kunst, können wir eigentlich alles machen, was wir wollen.“ 1999 Thomas Lehmen zu Thomas Lehmen in dem Stück „distanzlos“ 


„Natürlich, die Wand eines Theatergebäudes ist nicht mal so einfach abzureissen und wieder aufzubauen, aber das braucht mich ja nicht davon abzuhalten, es überhaupt zu denken.“ 2004, in „Tanz made in Berlin – Choreographen und Kompanien“, Hg. Tanzfabrik Berlin 


„Der Seinszustand eines/r Bühnenden, der die Symbiose der intuitiven und bewussten Kräfte verkörpern soll, also das Menschenbild eines seine Welt selbst schaffenden Menschen inkarniert, bedarf ebenso einer Trennung von kognitivem Handeln und Bewusstsein über den metaphysischen Raum. Dieser Ansatz, kombiniert mit einer physischen Grundhaltung des Seins selbst, einer körperlichen Präsenz der Mitwirkenden, die der Bewältigung von Arbeit, Umsetzung, also Prozessierung von Seinszuständen gleichkommt, eröffnet das Thema für die Ausführenden: eigene Wirklichkeit kreieren, das heisst die Wirklichkeit des Denkens selbst, der Reflexion und Veränderung, die auf die Welt projiziert wird und damit ermöglicht, dies als konstituierendes Instrument, als kreatives Momentum der kleinsten Einheit des/der Tänzers/in zu gebrauchen. (...) Welche Art von Gedankenräumen muss man schaffen, die nicht von Bedeutungsfixierung besetzt sind, sondern im Verstehen der Zeichen eine Erweiterung und Veränderung ermöglichen? (...) Verstehen ist in erster Linie ein Zustand des Akzeptierens.“ 2002, aus einem Textbeitrag in der Publikation „Schreibstück“ (Deutsch/Englisch), ISBN 3-00-009996-4 


„Wie sähe z.B. eine Arbeit aus, die aus den Ideen des Publikums erstellt, vom Budget der Bühnenden bezahlt, von Politikern im Wohnzimmer des Autors angeschaut wird – sofern dieser nicht eh verbannt ist – und deren Organisation von der Bahnhofsmission übernommen wird?“ 2003, aus einem Textbeitrag in der Publikation „Stationen #1“ (Deutsch/Englisch), ISSN 1612-7161 


„Choreographie griechisch: choreia – Tanz; graphia = Schrift. allgemein: 1. Künstlerische Gestaltung und Festlegung der Schritte und Bewegungen eines Balletts. Stationen: Organisation von Bewegung unter künstlerischen Kriterien in geistigen wie materiellen Aspekten des Raumes, durch die Kommunikationen hervorgerufen werden.“ 2003, aus dem Glossar zu der Produktion „Stationen“ * von Thomas Lehmen und Sven-Thore Kramm, Publikation „Stationen #4“(Deutsch/Englisch), ISSN 1612-7161 


„Konzept lateinisch: conceptus – das Zusammenfassen. allgemein: 1. erste Niederschrift, Entwurf eines Schriftstücks. 2. klar umrissener Plan, Programm für ein Vorhaben. Kunst: 1. Die einem (künstlerischen) Werk, einem Programm zugrundeliegende Auffassung, Leitidee. 2. Kunstrichtung (Konzeptkunst / Conceptual Art), die sich ab Mitte der 60er Jahre unter dem Einfluss von Sol LeWitt entwickelt. Kennzeichnend ist die Abwendung von der Kreativität (im Sinne der Erfindung eigener Bildwelten) zugunsten des klar Definierten, „Objektiven“ (im Sinne von in sich geschlossenen Systemen ohne Aussage über etwas anderes als sich selbst bzw. im Sinne des nur noch Konstatierens und Fixierens von Prozessen). Stationen: Keine Kunst ist ohne Konzept, damit ist es auch hinfällig über „Konzepttanz oder „Tanz“ und/oder „Nichttanz“ zu reden. Die Idee eines Stückces auf der Bühne transparent zu amchen und sie zu reflektieren ist nichts weiteres als die Inklusion des menschlichen, sich reflektierenden Denkens in das Dispositiv der Arbeit.“ 2003, aus dem Glossar zu der Produktion „Stationen“ von Thomas Lehmen und Sven-Thore Kramm, Publikation „Stationen #4“ (Deutsch/Englisch), ISSN 1612-7161 


„Die einzige Praxis ist Arbeit performen.“ 2006, aus dem Stück „In All Languages“

 


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